Sie hat es nie richtig glauben können, wenn sie Leute ab Mitte 50 hörte, die behaupteten, dass jetzt die schönste Zeit ihres Lebens sei. Die Kinder aus dem Haus, im Beruf fest im Sattel – zumindest unterliege man nicht mehr so sehr dem Zwang, sich beweisen zu müssen – und neue Möglichkeiten, seine Freizeit zu gestalten. Alles irgendwie entspannter und gelassener. Sie fand das Leben in jüngeren Jahren selbst immer mühsam. Dass es mit zunehmendem Alter anders werden sollte: undenkbar.
Und nun ist sie in den 50ern und hört sich ihren viel jüngeren Kolleginnen sagen, dass das jetzt die schönsten Jahre für sie sind. "Echt?", fragen diese dann zurück, und sie kann es mit vollem Herzen bejahen.
Klar, es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein. Der Alltag fordert sie an manchen Tagen auch heute noch bis an ihre Grenzen heraus. Aber ihre Grundhaltung hat sich geändert. Das kam nicht von heute auf morgen und nicht einfach so mit dem Alter. Das kam, als sie vor einigen Jahren merkte, dass sie so nicht weiterleben möchte. Nach außen hat man es ihr nicht angemerkt, aber innerlich war sie immer traurig. Fühlte sich allein und zu oft unverstanden. Doch das Schlimmste: sie fühlte sich ungenügend. Immer. Auch das, was sie tat, wofür sie auch gelobt wurde – für sie war es nie gut genug. Selbst Gott sah sie als jemanden, der von ihr Leistung sehen wolle, vor dem sie einmal Rechenschaft ablegen müsse. Wozu hatte er ihr eigentlich Talente geschenkt? Mit leeren Händen vor Gott zu stehen – früher ein unerträglicher Gedanke. Bei alledem hatte sie eine tolle Wohnung, ein richtig gutes Einkommen. Die äußeren Umstände stimmten also – warum überhaupt klagen? Und sie fragte sich, ob sie vielleicht einfach nur undankbar war?
Als sie diese innere Zerrissenheit nicht mehr aushielt, suchte sie sich professionelle Hilfe. Da war sie Mitte 50. Der Weg war nicht ganz einfach. Viele Gespräche, viele Erkenntnisse, viele Tränen. Sie erkannte nach und nach, wie viele von Kindheit an anerzogenen Glaubensätze ihr Leben und Denken bestimmten.
Erinnerungen:
Die 2 auf dem Zeugnis, die sich wie eine 5 anfühlte, weil es eben keine 1 war.
Das Nicht-gehört-werden: Sei still, Kinder haben den Schnabel zu halten.
Nicht ernstgenommene Ängste: stell dich nicht so an, hieß es dann.
Sie erkannte, welche Verhaltensweisen sie sich unbewusst angewöhnt hatte, um gut durchs Leben zu kommen. Eigene Wünsche hintenanstellen, um nicht als egoistisch zu gelten. Bloß nicht Nein sagen, um gemocht zu werden. Die Liste war lang. Immer hatte sie gehofft, dass es eines Tages besser werden würde. Im Nachhinein ist sie froh, dass irgendwann die Situation nicht mehr zum Aushalten für sie war. Denn da hat sie sich Hilfe gesucht – und bekommen. Sie sieht es als Gottesgeschenk. Dass sie den Mut hatte, sich professionelle Hilfe zu suchen und sie dann auch erfahren hat. Grundlegendes hat sich für sie geändert. Das Leben ist wunderbar! Mit knapp 60.
Neulich las sie ein Zitat von einem amerikanischen Jesuiten, der wegen seiner Friedensarbeit während des Vietnamkrieges lange Zeit im Gefängnis war: "Meine Hoffnung steckt in meinen Beinen und in meinem Hintern.“ [1]
Da muss sie lachen und dem Autor Recht geben. Hoffnung im Herzen gut und schön. Es ist aber auch wichtig, anzufangen, sich auf den Weg zu machen, obwohl der Ausgang nicht absehbar, ja sogar ungewiss ist. Hoffnung lebt davon, dass etwas getan wird. Erst dann kann sich etwas ändern. Und dafür ist es nie zu spät.
[1] Fulbert Steffensky, Wo der Glaube wohnen kann, Stuttgart 2008, 46.