Wenn man wie ich die 60 überschritten hat, wird alles relativ. Relativ im Sinne von begrenzt und vorläufig ist nun endgültig auch die eigene Lebenszeit geworden. Ich messe den Rest nicht mehr in Jahrzehnten, so wie ich es getan habe, als ich noch jung war; von nun an bleiben nur noch Jahre, und Gott allein weiß, wie wenige und wie viele es noch sein werden.
Zukunft wird überschaubar. Und damit stellt sich auch ein völlig anderes Zeitgefühl ein. Denn: Ich werde vieles nicht mehr erleben! Vor allem werde ich das nicht mehr in seinem vollen Ausmaß zu spüren bekommen, was sich schon heute als Bedrohung abzeichnet. Der Klimawandel hat längst begonnen, seine radikalen Konsequenzen werden mir selbst aber wohl erspart bleiben, auch wenn vieles schon jetzt seine düsteren Schatten vorauswirft, es sei denn, man leugnet die Fakten. Von diesen Leugnern gibt es leider viel zu viele…
Ich frage mich: Machen wir Älteren uns eigentlich klar, dass das Zeit- und Bedrohungsgefühl bei den jungen Menschen ein ganz anderes ist, dass sie das erleben werden, was wir, die wir in die Jahre gekommen sind, nur als Prognose und nicht als volle Realität kennen? Persönlich muss ich vor dem, was uns da droht, keine Angst mehr haben; wer aber jung ist, hat allen Grund, sich zu fürchten, wenn wir nicht radikal gegensteuern.
Das sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir auf das Protestverhalten junger Menschen schauen. Sie sind und werden viel stärker betroffen sein als die ältere Generation. Ich merke, dass viele junge Menschen mit ihrer Geduld am Ende sind. Ihr Protest radikalisiert sich, wird unbequem, nervend. Das wollen sie auch: nerven, aufrütteln! Nicht wenige nennen sich die "Letzte Generation". Allein in dieser Selbsttitulierung schwingt viel Pessimismus mit, wie es das in früheren Epochen in diesem Ausmaß nicht gegeben hat.
Die Zukunft ist radikal bedroht. Und wenn die Aktivisten sich dann festkleben und unsere Alltagsströme unterbrechen, finden das längst nicht alle gut. Der Widerstand der Genervten wächst. Auch ich betrachte so manches, was sich da als Protestaktion inszeniert, durchaus kritisch. Ich finde es schwierig, ja falsch, wenn Recht gebrochen wird. Aber der Protest, der Widerstand selbst ist nur zu verständlich. Denn die Zeit drängt!
Was kann ich als Älterer tun? Mir ist wichtig, mich einzusetzen für eine Ethik der Verantwortung, die die Zukunft unbedingt einschließt!
Jesus nennt in der Bergpredigt den alles entscheidenden Maßstab einer Verantwortungsethik. Es handelt sich um die Goldene Regel, die der Philosoph Kant als kategorischen Imperativ reformuliert hat. Beides verpflichtet uns radikal als Gegenentwurf zu einer egoistischen Grundhaltung: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut auch ihnen!"
Der Philosoph Hans Jonas hat allerdings schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass die Goldene Regel zu kurz greift, wenn sie nur den Nächsten in großer zeitlicher Nähe im Blick hat, wenn sie also auf die Gegenwart fixiert bleibt. Der Nächste ist gerade auch der, der noch gar nicht geboren ist. Und so formuliert Jonas als ethischen Grundsatz: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit echten menschlichen Lebens auf der Erde!"
Auf der Grundlage einer solchen Ethik der Verantwortung sitzen wir alle im selben Boot. Als Älterer verpflichtet mich auch das, was ich selbst gar nicht mehr erleben werde, es sei denn, ich stehe auf dem Standpunkt: Nach mir die Sintflut!
Das verbieten mir die Goldene Regel Jesu und mein Anspruch als Christ, dass wir gemeinsam Verantwortung tragen für Gottes gute Schöpfung.