Vor zwei Wochen schwinge ich mich auf mein Fahrrad. Ich habe es eilig. Aber leider muss ich schon sehr schnell feststellen: Der Vorderreifen ist platt. Nichts geht mehr. "Die Luft ist raus" - wie es so schön heißt.
"Die Luft ist raus" - dieser Ausruf bezieht sich in diesen Tagen sicher nicht nur auf den Zustand meines Fahrradreifens. In Zeiten zahlreicher Krisen, die wir derzeit durchmachen, trifft das wohl auch auf den Gemütszustand vieler Menschen zu: "Die Luft ist raus" - Ich werde müde - Es wird anstrengend, mit all den gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen.
Wenn ich mit meinem Fahrrad eine Wegstrecke zurücklegen möchte, setze ich wie selbstverständlich voraus, dass dieses Transportmittel funktioniert. Dass genug Luft im Reifen ist, dass die Bremsen intakt sind und dass das Licht in Ordnung ist. Ich plane ja gar keine Zeit ein, um vor dem Radfahren zu kontrollieren, ob es überhaupt funktionstüchtig ist.
Alles also selbstverständlich? Alles läuft immer weiter, wie eh und je? Mitnichten. Meine Lebenserfahrung zeigt mir: Nicht alles kann ich jederzeit voraussetzen. Und irgendwann geht es mir wie meinem Fahrradreifen: "Die Luft ist raus!" Dann bin auch ich leer. Nichts mehr drin. Das kann in der Familie oder im Beruf sein. Viel zu tun, viele Baustellen gleichzeitig und einfach zu wenig Zeit für mich selbst. Irgendwann komme ich an das Ende meiner Kraftquellen. Ich muss erst wieder aufpumpen, Kräfte sammeln, auftanken.
In der Bibel wird Jesus mit diesen Worten zitiert: "Kommt alle zu mir, die Euch Mühsal plagt, die ihr beladen seid!" Ja, so komme ich mir auch manchmal vor: Be-laden. Zu schwer, zu viel. Das Gefühl des Beladen-Seins kann Menschen überfallen. Dann geht nichts mehr. Psychologen sprechen vom Burn-out.
Wann war der Punkt, an dem das Ausbrennen begonnen hat? Wahrscheinlich ist es nicht ein bestimmter Punkt, sondern ein schleichender Prozess. Ein permanentes Überfordern des persönlichen Zeitbudgets. Immer wieder über Grenzen gehen. Und irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem das sprichwörtliche Fass überläuft.
Mitten im Alltag einmal innehalten, zum Durchatmen kommen - das muss ich mir vornehmen, gewissermaßen einplanen. Es reicht manchmal, sich einen Moment an das Fenster zu stellen und für eine kurze Zeit nach draußen zu schauen. Drei Minuten die Welt "anzuhalten", sich neben sich zu stellen und die Welt zu betrachten.
Nicht immer einfach. Nicht so einfach wie mit einer Fahrradpumpe einen Reifen voll zu bekommen. Wir Menschen brauchen Zeit. Meine Seele braucht Zeit. Niemand kann exakt ausrechnen, wie lange dieses Aufpumpen dauert. Ich finde, es ist vor allem entscheidend, dass ich wahrnehme: Jetzt ist die Luft raus. Mein Akku ist leer – ich habe keine Energie mehr.
Denn dann kann ich auch etwas dagegen unternehmen. Vielleicht schalte ich in meinem Leben – bildlich gesprochen – einen Gang herunter, nehme das Tempo heraus und nehme mir mehr Zeit zum Entspannen und zum Erholen. Das kann schon mit kleinen Momenten anfangen. Zum Beispiel bewusst den Sonnenaufgang wahrnehmen, eine Landschaft in Ruhe betrachten, schöne Musik genießen.
Ich kann etwas für meine Seele tun. Und dann kann ich auch zu mir kommen und vielleicht auch neue Kraft tanken, den Akku aufladen. Es geht nicht immer weiter, weiter und weiter. Nicht bei einem Fahrradreifen und nicht bei der menschlichen Seele.