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Familie

Morgenandacht, 11.07.2023

Andrea Wilke, Arnstadt

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Als Onkel Paul starb, kam für alle das große Erwachen. Bis dahin hatte man sich in der Familie selten gesehen. Ein- bis zweimal im Jahr. Wenn man auf Reisen und deshalb in der Nähe war oder wenn es eine Hochzeit oder einen runden Geburtstag zu feiern gab. In den letzten Jahren waren die Besuche von Onkel Paul noch seltener geworden, es hatte sich einfach nicht ergeben. Aber telefoniert haben sie öfter miteinander. Hallo, wie geht es Dir? -  Ach ja, ganz gut. Und dann wurde ein bisschen geplaudert. Was die eigenen Kinder machten, was einen politisch gerade bewegte und dass es doch ganz schön wäre, sich wieder einmal zu sehen. Ja, das machen wir bestimmt, hatte Onkel Paul gesagt, also bis bald mal wieder.

Nach einigen Wochen, in denen niemand etwas von Paul gehört hatte, kam die Nachricht, dass er verstorben ist. Mit Mitte 60. Paul hatte allein gelebt. Die Familie traf sich zu seiner Beerdigung. Dort kam heraus, was niemand von ihnen für möglich gehalten hatte: Onkel Paul war in großer Armut gestorben. Als sie später seine Wohnung auflösten, offenbarte sich das ganze Elend. Paul hatte fast nichts besessen. Das wenige Geld hatte gerademal zum Überleben gereicht. Ab und an der Luxus einer Dose Bier.

Um Himmels willen, warum hat er denn nichts gesagt, fragten die einen. Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir ihm doch geholfen, sagten die anderen. Sie meinten es ehrlich, denn alle hatten sie Onkel Paul gemocht, auch wenn er zeitlebens ein Eigenbrötler gewesen war. Nun waren sie traurig, ihn doch so wenig gekannt zu haben. Sie fragten sich, gab es Anzeichen, die sie übersehen hatten? Ja, doch, das eine oder andere war ihnen manchmal schon komisch vorgekommen. Zum Beispiel, dass er es immer vermieden hatte, selbst die eigenen Verwandten in sein Haus zu lassen. Lieber traf er sich mit ihnen in der Kneipe um die Ecke. Oder dass er seit Jahren immer dasselbe Oberhemd trug, das am Kragen und den Manschetten immer verschlissener aussah. Aber sie wollten den Onkel auch nicht so ausfragen? Er hätte wahrscheinlich gar nichts von seinen Problemen erzählt. Hätte er doch nur. Sie sind doch eine Familie!

Familie. Dieses Wort ist positiv besetzt. Es steht für Zusammenhalt, Verständnis und Hilfsbereitschaft. Auch wenn nicht alles immer optimal läuft, es braucht viel, um mit der Familie zu brechen. In der Regel ist man über viele Jahrzehnte mit den Familienmitgliedern verbunden, wohl am längsten mit seinen Geschwistern. Selbst wenn es mal richtig Zoff unter ihnen gibt, man gehört zusammen.

Ein Sprichwort sagt: "Familie ist wie ein Baum. Die Zweige mögen in unterschiedliche Richtungen wachsen, doch die Wurzeln halten alles zusammen." Familie ist kein Synonym für heile Welt. Denn in einer Familie wird geliebt und gelacht, aber eben auch gestritten und geweint. Familie ist kein Garant dafür, dass niemand untergeht, aber hier kann es vielleicht am ehesten gelingen, dass so etwas nicht passiert.

Was für die Familie im Kleinen gilt, müsste doch auch für die Familie im Großen gelten. Darüber muss ich oft nachdenken, gerade wenn ich von irgendwelchen Katastrophen höre und schlimmen Zuständen, in denen Menschen sich befinden. Mit der Familie im Großen meine ich tatsächlich alle Menschen auf der Welt. Acht Milliarden Geschwister. Manchmal stelle ich mir vor, wir sitzen alle an einem großen Tisch. Und dann kann es doch nicht sein, dass für ca. zehn Prozent an diesem Tisch die Teller leer bleiben. So viele Menschen leiden weltweit an Hunger. Dafür gibt es viele Ursachen. Einige davon könnten wir beeinflussen. Dazu müssten wir nur einige liebgewordene  Lebensgewohnheiten ändern. Das würde helfen.

Warum tun wir uns da so schwer? Wir sind doch eine Familie!

Über die Autorin Andrea Wilke

Andrea Wilke wurde 1964 in Potsdam-Babelsberg geboren. 1989 - 1995 studierte sie Katholische Theologie in Erfurt und war danach bis 2002 tätig in der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Erfurt. Sie ist Onlineredakteurin für die Homepage des Bistums und Rundfunkbeauftragte für den MDR im Bistum Erfurt.

Kontakt: Bischöfliches Ordinariat, Onlineredaktion, Herrmannsplatz 9, 99084 Erfurt

http://www.bistum-erfurt.de; awilke@bistum-erfurt.de