6. Klasse. Religionsunterricht, meine Schülerinnen und Schüler sind elf, zwölf Jahre alt. Ich rede über das Wort "Nächstenliebe" und schaue in 30 ratlose Gesichter. Will Beispiele hören, aber es kommt nichts. "Nächstenliebe kennt doch jede und jeder, …" Kopfschütteln in der Klasse. Da habe ich mich aber mal so richtig verschätzt. Ich dachte: Nächstenliebe, das ist ein Basisbegriff für meinen christlichen Glauben, aber auch dafür, dass unsere Gesellschaft überhaupt zusammenhält. Beispiele dafür kennt doch heute noch jedes Kind. Ich frag ja nicht nach Sakrament, Gnade oder Fronleichnam.
"Was könnte es denn sein?", frage ich noch mal in die Runde. Stille. Dann geht zaghaft ein Finger nach oben, "Ja, Leon?" – "Also Nächstenliebe ist glaub ich: Liebst du heute die eine, morgen die Nächste!" Ich weiß in dem Moment nicht, ob ich lachen der weinen soll.
"Also", sage ich, "Nächstenliebe ist zum Beispiel: Wenn jemand traurig ist und alleine, und ich besuche ihn." "Achsooo", rufen jetzt viele, "sich helfen, sagen Sie das doch Herr Hoffmann." Und dann haben meine Schüler aus ihrem Alltag auch ganz viele tolle Beispiele, wie sie anderen geholfen haben – einfach so, ganz ohne Belohnung. Auch Jesus ging es nie um Begriffe. Er wollte, dass Menschen Nächstenliebe leben! Egal, wie sie das nennen.
Heute ist der Gedenktag eines Menschen, der wie kaum ein zweiter mit Nächstenliebe verknüpft wird: Der heilige Martin von Tours. Neben den Katholiken verehren ihn auch die Protestanten, die Orthodoxen und die Anglikaner.
Der heilige Martin lebte im 4. Jahrhundert, das bekannteste Detail seiner Biographie ist die Mantelteilung: An einem bitterkalten Tag im Winter trifft Martin am Stadttour von Amiens in Nordfrankreich einen armen, nackten Mann. Martin ist Soldat, deshalb hat er ein Schwert dabei. Das zückt er, um mit dem frierenden Fremden zu teilen. Er schneidet den Mantel in zwei Hälften – eine für den Bettler und eine für ihn.
So weit so gut, doch die Legende geht noch weiter: Als Martin in der Nacht darauf träumt, erscheint ihm Jesus Christus im Traum. Und hat genau die Mantelhälfte an, die Martin mit dem Bettler geteilt hat. Diese Vision im Traum des Heiligen Martin hat eine konkrete Parallele zu einer Stelle in der Bibel. Da identifiziert sich Jesus mit allen Menschen, die in Not sind. Und da heißt es: "Ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben." (Mt 25, 36) Und weiter: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." (Mt 25, 40) In den Versen davor sagt Jesus, das wir ihn auch in allen Menschen finden, die hungern oder Durst haben, die krank sind, gefangen, fremd und obdachlos – was für eine Ansage!
Es ist die Bibelstelle, die mich am meisten herausfordert und mich zugleich am meisten begeistert. Ein Gott, der Mensch wird und unsere Welt auf den Kopf stellt, indem er sich mit allen, die schwach, einsam und traurig sind, solidarisiert und so zeigt, wo wir diesen Gott finden: Im Gesicht unseres Nächsten, der gerade in Not ist.
Allen, die das heute Abend mit Martinsumzug oder Martinsbrezel feiern, wünsche ich dabei viel Freude. Die mit ihrer Laterne oder am Martinsfeuer zeigen: Wir wollen mehr Licht in diese Welt bringen, sie heller machen, so wie es Martin uns vorgemacht hat. Und allen die Martin oder Martina heißen wünsche ich heute einen tollen Namenstag.
Vielleicht wäre meine Klasse im Religionsunterricht mit einem konkreten Einstieg zu Sankt Martin schneller in die Gänge gekommen. Fest steht jedenfalls: Die Erinnerung an ihn und die Mantelteilung heute an seinem Tag, kann uns helfen, immer dann in die Gänge zu kommen, wenn ganz konkret Nächstenliebe im Alltag gefragt ist.