Was fehlt, wenn Gott fehlt? Soziologen haben diese Frage kürzlich eindeutig beantwortet: Nichts fehlt. In unserer Gesellschaft spielt Gott weitestgehend keine Rolle mehr – er wird nicht mehr gebraucht.
Ich will umgedreht fragen, wofür bräuchten wir Gott denn? Da würde man zeitgemäß antworten: Jeder soll ja ruhig seinen Gott haben, für das eigene Wohlbefinden, eine höhere Macht, an die man sich stets wenden kann. Aber bitte jeder für sich im stillen Kämmerlein. Und erst recht nicht mit allgemeinen Folgen für die Gesellschaft. Diese Haltung ist zweifelsohne ein Zeichen unserer Zeit. Nichts fehlt, wenn Gott fehlt.
In diesem Jahr haben wir 75 Jahre Grundgesetz gefeiert. Es gilt als das Fundament unseres Zusammenlebens in einem freien und demokratischen Rechtsstaat. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren größtenteils Christen, sie haben in der Präambel einen Satz vorangestellt, der heute wohl undenkbar wäre. Da heißt es: "Das deutsche Volk hat sich dieses Grundgesetz gegeben im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen." Und in diesem Geist haben sie als ersten und wichtigsten Paragraphen direkt hinterhergeschoben: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Ich habe den Eindruck, dass in vielen gesellschaftlichen Debatten der letzten Jahre zunehmend auf diesen Paragraphen verwiesen wird, er scheint also unumstritten nachwievor. Er ist also nicht an einen Glauben an Gott gebunden. Und doch gibt es eine christliche Deutung dieses Paragraphen, die ihn präzisiert und mit der Intention der Grundgesetzväter und –mütter verbindet. Gerade nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der Entwicklung dahin, sollte der Gottesbezug in der Präambel die Menschen vor Hybris bewahren, vor Machtmissbrauch und Menschenverachtung. In der Verantwortung vor einem Schöpfer, einem Urgrund des Seins, als Prinzip allen Lebens, gibt es notwendigerweise einen unantastbaren Bereich – das Leben an sich. Daraus folgt dann die Würde jedes einzelnen Menschen, die keinem anderen Interesse untergeordnet werden kann.
Der 98jährige Bestsellerautor und Benediktinermönch David Steindl-Rast hat kürzlich einen wie ich finde bemerkenswerten Satz gesagt: Der Mensch sei von Natur aus religiös. Damit meinte er, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier eine Haltung einnehmen könne gegenüber dem "Geheimnis des Lebens", wie er es sagt. Es gäbe im Menschen eine angelegte Sehnsucht, sich diesem Geheimnis nähern zu wollen. Doch unserer Gesellschaft sei in den letzten 100 Jahren zunehmend die – wie er es nennt – "Ehrfurcht" vor dem Leben abhandengekommen, unsere Gesellschaft müsse die Ehrfurcht vor der Würde des Lebens wieder finden.
Hat David Steindl-Rast Recht? Das kommt zunächst sehr fundamental daher und man fragt sich wohl, woran er es denn fest macht. Vielleicht meint er ähnliches, wie einige Soziologen, wenn sie sagen, dass die "Gleichgültigkeit" und die „Individualisierung“ Merkmale unserer Zeit seien. Sie machen sie fest etwa beim Umgang mit dem Klimawandel und der Weigerung, trotz klarer Signale die persönlichen Gewohnheiten für den Klimaschutz ändern zu wollen.
Oder daran, wie die Regierungen weltweit bereit sind, zur kurzfristigen Problemlösung der künftigen Generation immer höhere Schuldenberge zu hinterlassen.
Oder im Blick auf den Umgang mit dem Recht auf Leben, wenn im Ringen zwischen Selbstbestimmung und Lebensschutz nicht mehr grundsätzlich die Annahme gilt, dass das Leben an sich immer als höchstes Gut zu sehen ist. Ist unserer Gesellschaft die "Ehrfurcht vor dem Leben" abhanden gekommen? Vielleicht gibt es ja doch eine Antwort darauf, was fehlt, wenn Gott fehlt: Die Ehrfurcht vor dem Leben.