Jeden Morgen um dieselbe Zeit fährt ein kleines rotes Auto schnittig auf unseren Parkplatz. Dann steigt eine junge Frau aus und geht – oder besser: läuft zum Eingang nebenan und verschwindet im Nachbarhaus. Sie ist vom ambulanten Pflegedienst und kümmert sich täglich um eine alte Dame im Dritten Stock. Sie liegt pflegebedürftig zu Hause, wird von ihrem Ehemann versorgt und zweimal am Tag von Pflegerin oder Pfleger besucht. Wenn ich grade zur selben Zeit aus dem Haus gehe, winke ich der jungen Frau vom Pflegedienst zu. "Ganz schön flott sind Sie unterwegs", sage ich anerkennend! "Hilft nix," sagt sie. "Aber fliegen kann ich leider noch nicht!"
Mir kommt's trotzdem so vor. Und das aus gutem Grund: Heute, am 12. Mai ist der internationale Tag der Pflegenden. Es ist der Geburtstag von Florence Nightingale, die heute vor 205 Jahren geboren wurde und den Pflegeberuf revolutioniert hat. Von ihr gibt es den Ausspruch: "Wenn man mit Flügeln geboren wird, sollte man alles dazu tun, sie zum Fliegen zu benutzen." Florence Nightingale erlernte den Beruf einer Krankenschwester. Sie vertrat die Ansicht, dass es neben dem ärztlichen Wissen ein eigenständiges pflegerisches Wissen gebe und dass es dafür auch eine gesonderte Ausbildung geben müsse. Diese Überzeugung legte sie in ihren Schriften zur Krankenpflege nieder, die bis heute als Gründungsschriften der modernen Pflegetheorie gelten. Sie versorgte verletzte Soldaten im Krimkrieg und konnte durch verbesserte Hygienemaßnahmen dem massiven Sterben Einhalt gebieten.
Obwohl sie nach ihrer Rückkehr selbst gesundheitlich angeschlagen war, arbeitete sie bis ins hohe Alter von 90 Jahren – dann von ihrem Schreibtisch aus. Unermüdlich schrieb sie Gutachten, um auf problematische Verhältnisse für die allgemeine Gesundheit hinzuweisen, zum Beispiel zur problematischen Trinkwasserversorgung in Indien.
Für Florence Nightingale war Pflegen wie Fliegen, also sich nicht mit den Niederungen der Realität abzufinden, sondern sozusagen die eigenen "Flügel" zu benutzen und etwas gegen die Schwerkraft zu tun. Von daher ist Pflege für sie auch eine Kunst. Sie schreibt:
"Um daraus eine Kunst zu machen, bedarf es einer ausschließlichen Hingabe und einer ebenso harten Vorbereitung wie die Arbeit eines Malers oder Bildhauers." [1]
Als Seelsorger für Pflegeberufe möchte ich den Begriff "Kunst" gerne unterstreichen. Natürlich bekomme ich in vielen Gesprächen die Sorgen von Pflegenden mit, wie z.B. Mangel an Zeit und Personal und die manchmal als zu gering erlebte Wertschätzung. Auf der anderen Seite kann ich nur den Hut ziehen vor der großen Kunst, als die ich die Gesundheits- und Krankenpflege erlebe. Fliegen kann die Dame vom Pflegedienst nebenan freilich nicht, aber ich staune über ihre Hingabe, das hohe Tempo, ihr pflegerisches Können und die Menschenfreundlichkeit, die sie ausstrahlt.
Ich möchte der jungen Frau vom Pflegedienst nebenan sowie allen stationär und ambulant Pflegenden an diesem Tag aufrichtig danken für ihren großen selbstlosen Einsatz, der ihnen nicht selten Überwindung und ein hohes Maß an Geduld abverlangt. Ich beziehe in meinen Dank all jene ein, die mit der Pflege beruflich oder ehrenamtlich Hand in Hand arbeiten. Sie alle verkörpern einen zentralen Gedanken des Christentums, die Nächstenliebe, und sie alle leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, dass sich Menschen in Alter oder Krankheit oder mit anderen Einschränkungen ihrer Würde sicher bleiben können!
[1] https://www-carerev-com.translate.goog/blog/quotes-of-florence-nightingale-about-nursing-a-guide-to-her-wisdom?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=rq