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Vater Unser

Morgenandacht, 12.07.2023

Andrea Wilke, Arnstadt

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Sie sind seit fast 60 Jahren verheiratet, Ingrid und Paul. Seit etwa einem Jahr leben sie in einem Pflegeheim. Zum einen war es das Alter, das diesen Schritt notwendig machte. Sie ist 90 Jahre alt, er etwas jünger. Der Sohn, das einzige Kind, wohnt zu weit weg, als dass er tagtäglich nach dem Rechten sehen könnte. Pauls zunehmende Demenz und die schwere Erkrankung von Ingrid brachten schließlich die Entscheidung für das Pflegeheim.

Als ich die beiden das erste Mal besuche, ist ihr Sohn dabei. Er freut sich, dass ich als ehrenamtliche Hospizbegleiterin für seine Mutter da sein werde. Als ich das zweite Mal ins Pflegeheim komme, treffe ich Ingrid allein im Zimmer an. Weil Paul gerade bei einer Therapie ist, kann ich mich allein mit ihr unterhalten. Nach und nach erfahre ich von den schlimmen Träumen jede Nacht, über die sie aber nicht weiter reden will. Sie erzählt mir von ihrer Kindheit, von der Vertreibung nach dem Krieg und ihrem Ankommen in Thüringen. Von Paul, wie sie ihn kennengelernt und schließlich geheiratet hat, von den wunderschönen Reisen und Wanderungen, die sie als Familie unternommen haben und wie schlimm es für sie jetzt ist, dass sie sich nicht mehr unterhalten können.

Bei allem, was sie erzählt, wird mir die Tragweite bewusst, was es heißt, nach einem langen selbstständigen Leben im Pflegeheim zu sein. Sie fühle sich, so lauten Ingrids Worte, wie ein Mensch ohne freien Willen. Und dann den geliebten Partner zu erleben, wie er jeden Tag mehr entschwindet und in seiner eigenen Welt lebt, zu der sie nicht durchdringen kann, das ist schrecklich.

Während ich ihr zuhöre, entdecke ich an der Wand einen christlichen Abreißkalender. Und auf ihrem Tisch das katholische Gebets- und Gesangbuch "Gotteslob". Mir ist beides vertraut. Ich frage sie, ob wir zusammen das Vaterunser beten wollen. Als sie die Frage hört, hebt sie ruckartig ihren Kopf. In ihren Augen taucht ein Leuchten auf, und sie antwortet mir mit einem freudigen 'Ja'. Ich hatte nicht erwartet, dass das Angebot, gemeinsam zu beten, für sie eine so große Freude ist. Und dann beten wir, langsam, Wort für Wort. Dieses wunderbare Gebet Jesu, das alles enthält, was der Mensch sich für ein gutes Leben nur wünschen kann. Es ist ein besonderer Moment, eine Sternstunde an diesem Tag – für sie und für mich.

Als ich das nächste Mal zu ihr komme, ist Paul auch dabei. Er sitzt in seinem Rollstuhl neben ihr und schaut aus dem Fenster. Ingrid erzählt wieder, auch über sich und Paul. Ihn scheint das nicht zu stören. Er reagiert nicht, schaut einfach nur starr und regungslos aus dem Fenster. Gegen Ende meines Besuches frage ich Ingrid, ob wir wieder zusammen beten wollen. Oh ja! Noch ehe wir die ersten Worte "Vater unser" ausgesprochen haben, höre ich Paul. Mit kräftiger, klarer Stimme betet er das Vaterunser mit. Bis zum Amen. Ich bin total überrascht. Paul, den ich bis dahin noch nie hatte ein Wort sagen hören, betet mit.

Innerlich war ich völlig aus dem Häuschen. Für Neurologen ist das vermutlich nichts Außergewöhnliches und sie haben eine Erklärung für dieses Phänomen. Wahrscheinlich werden sie sagen, dass Pauls Langzeitgedächtnis eines Tages auch das Vater unser vergessen haben wird. Ist das wichtig? Für mich ist es wichtiger, dass einer uns hält – selbst dann, wenn uns die Worte fehlen: Unser Vater im Himmel.

Über die Autorin Andrea Wilke

Andrea Wilke wurde 1964 in Potsdam-Babelsberg geboren. 1989 - 1995 studierte sie Katholische Theologie in Erfurt und war danach bis 2002 tätig in der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Erfurt. Sie ist Onlineredakteurin für die Homepage des Bistums und Rundfunkbeauftragte für den MDR im Bistum Erfurt.

Kontakt: Bischöfliches Ordinariat, Onlineredaktion, Herrmannsplatz 9, 99084 Erfurt

http://www.bistum-erfurt.de; awilke@bistum-erfurt.de