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Schließe sie in dein Herz

Morgenandacht, 13.05.2025

Pfarrer Christoph Seidl, Regensburg

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"Der Tag heute wäre ja ganz gut gewesen, wenn da nicht wieder der Knatsch mit diesem Kerl gewesen wäre!" So denke ich mir am Abend nach einem erneuten unangenehmen Gespräch mit einem Kollegen. Ich bedaure mich selbst und denke mir: "Warum muss er eigentlich immer gleich so aggressiv werden?" Ja, warum eigentlich? Derartige Warum-Fragen sind übrigens keine Bitte um Erklärung, sondern ein Hilfeschrei in einer scheinbar unlösbaren Situation! Unlösbar, weil es ein Teufelskreis ist: Keiner mag den Kerl, weil er immer so aggressiv ist – und er ist wohl immer aggressiv, weil er spürt, dass ihn keiner mag.

Der frühere brasilianische Bischof Dom Helder Camara hat sich sehr für Menschenrechte in seinem Land eingesetzt. Er hat einmal gesagt: "Die Menschen belasten dich? Trag sie nicht auf den Schultern. Schließ sie in dein Herz." Das klingt ganz schön schwierig, ist aber wohl der einzige Weg, um aus einem Teufelskreis auszusteigen. Denn wie kann man ihn wirkungsvoll unterbrechen?

Ich habe etwas sehr Wichtiges in meiner Kaplanszeit als Lehrer gelernt. Ich hatte Frühaufsicht und war entsprechend zeitig in der Schule. Als einer der ersten kommt ein halbwüchsiger Schüler, den ich gar nicht in meiner Klasse hatte, und fängt an mich zu beschimpfen: "Hey du Pfaff, geh nach Hause, du regst mich auf, wir brauchen dich hier nicht!" Ich war baff! Ich war damals noch relativ neu und kannte den Schüler überhaupt nicht – und so sehr ich nachdachte, es fiel mir nichts ein, wo ich mich ihm gegenüber vielleicht falsch verhalten hätte. Glücklicherweise kam der Rektor auch grade des Weges, er sah die Situation, rief den Burschen zur Ordnung und lud mich auf einen Kaffee in sein Büro ein. "Das war eine Begrüßung in aller Früh, nicht wahr?", sagte er zu mir. "Ich glaube, ich muss Ihnen das etwas näher erklären. Diese Attacke grade eben hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun!"

Der Rektor erzählte dann, dass der Jugendliche aus sehr prekären Verhältnissen stammte, dass wechselnde Männer zuhause einen nicht vorhandenen Vater ersetzen mussten und dass der Junge einen regelrechten Hass auf Männer entwickelt hatte. Der erste, der ihm in der Früh in die Quere kam, bekam diese Wut ab, egal wer. Der Rektor fuhr fort: "Wir müssen es hier alle lernen, dass unser Auftrag weit über den Lernstoff hinausgeht. Mir ist der Lehrplan natürlich wichtig, aber von Ihnen als Geistlichem wünsche ich mir vor allem eins: dass Sie unsere Kinder gernhaben! Das ist tatsächlich nicht immer einfach, aber ich glaube, das ist der einzige Weg, auf dem wir sie überhaupt erreichen können!"

Diese morgendliche Kaffee-Unterweisung habe ich mir gemerkt. Und ich bin sicher, dass da eine tiefe Weisheit drinsteckt: Nur, wenn ich sozusagen den Stecker ziehe und mich selbst unerwartet anders gegenüber einem "Angreifer" verhalte, kann ich etwas in ihm verändern: Vielleicht kann ich versuchen, den anderen sozusagen "in mein Herz zu schließen" – ich kann ihm ein kleines Entgegenkommen zeigen, das nächste Mal besonders freundlich zu ihm sein, ihm sagen, dass ich mir viele Gedanken über sein Verhalten mache und ich ihm gerne näherkommen möchte. Vielleicht fühlt es sich dann am Ende des Tages anders an. Nicht zuletzt wäre es eine Übersetzung der sogenannten Goldenen Regel aus der Bibel: "Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!" (Mt 7,12)

Über den Autor Christoph Seidl

Pfarrer Christoph Seidl wurde 1967 geboren. Er stammt aus Regensburg und ist seit 1992 Priester im Bistum Regensburg. Nach der Kaplanszeit in Straubing arbeitete er in der Priesterausbildung mit und war Studentenpfarrer in Regensburg. Pfarrer Seidl ist als Seelsorger für Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen im Bistum Regensburg tätig und als Gemeindeseelsorger in Regensburg – Harting.

Kontakt: seidl@seelsorge-pflege.de