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Ruhe

Morgenandacht, 13.06.2025

Pfarrer Christian Olding, Geldern

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"Den Urlaub haben Sie sich verdient." Mit diesem Satz werde ich häufig verabschiedet, wenn ich auf Reisen gehe. Er macht mich immer nachdenklich und ich frage mich dann, ob man mich als besonders beschäftigt und umtriebigen Typen wahrnimmt. Besser so als anders, denke ich dann unweigerlich, denn wir leben in einer Gesellschaft, in der "viel zu tun zu haben", einen gewissen sozialen Status markiert, während Ruhe und Rückzug beinahe als Faulheit angesehen werden.

Ruhe ist Mangelware geworden und das kann gefährliche Konsequenzen nach sich ziehen. Eine ist, dass es an unserer Empathie gräbt. An der Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, sich emotional einzubringen. Ich spüre das an mir selbst. Wenn in einer längeren Stressphase Themen an mich herangetragen werden, reagiere ich manches Mal mit Abwehr oder schlimmstenfalls sogar mit Gleichgültigkeit.

Die Bibel steuert eine ganz eigene Perspektive zu diesem Thema bei und zwar in einem ihrer ersten Kapitel, wo es um die Erschaffung der Welt geht. Da heißt es: Am sechsten Tag schafft Gott den Menschen, nimmt ihn an die Hand und spaziert mit ihm durch den Garten Eden. Gott zeigt dem Menschen die ganze Vielfalt seiner Lebenswelt und gibt ihm die Arbeitsaufträge der kommenden Zeit, was es zu benennen, zu bebauen und zu gestalten gilt. Als Gott dem Menschen alles gezeigt hat, macht er ihm klar: "Übrigens, morgen ist hier Feiertag. Morgen ruhst du dich aus."
Das sagt Gott zu einem Wesen, das gerade erst nigelnagelneu auf die Welt gekommen ist und bis dahin noch keinen Finger gerührt hat. Das Erste, was dieser Mensch tun soll, ist: ruhen. 

Der Gedanke, dass Gott selbst nach sechs Schöpfungstagen ruhte, wie es in der Bibel heißt, hat im Lauf der Geschichte viele Fragen aufgeworfen: Brauchte er Ruhe? Kann Gott müde werden? Und nicht zuletzt: Was tat Gott, als er ruhte?

Die Antwort jüdischer Gelehrter auf die Frage, warum Gott ruhte, lautet: weil er den Sabbat schaffen wollte, den siebten Tag als Ruhetag. Die mittelalterlichen jüdischen Theologen nannten den Sabbat deshalb die "Krone der Schöpfung."

Was tat Gott an diesem siebten Tag? Die jüdischen Lehrer haben auch darauf eine Antwort: Er schuf "menuah". Das hebräische Wort hat im Deutschen viele Nuancen. Es bedeutet so viel wie: Klarheit, Gelassenheit, Frieden. Alles erstrebenswerte Dinge und alles notwendige Grundlagen, damit die Arbeit, die wir angehen, am Ende wirklich auf Erfolg und auf ein gutes Gelingen angelegt ist: Klarheit, Gelassenheit und Frieden. All das sind Begleiterscheinungen der Ruhe.

Ruhen bedeutet, sich umgestalten zu lassen. Körperlich passiert das, indem wir schlafen und seelisch, indem wir uns zurückziehen. Ein altes Wort für Ruhe heißt Rekreation, was so viel bedeutet wie "neu geschaffen werden". Ich muss mir die Ruhe antun lassen. Ich muss sie an mir geschehen lassen. Die Ruhe ist nicht der letzte Seufzer des erschöpften Menschen, sondern ein Offenwerden für neue Anfänge - in der Liebe, in der Arbeit, in kreativen Prozessen, im Werden des Menschen.

Und wie die Erschaffung der Erde nicht nach einer Woche abgeschlossen war, so müssen auch unser inneres Leben und unsere Gedanken umgestaltet und erneuert werden, immer und immer wieder. Genau das geschieht in der Ruhe und der Rekreation. Wir entscheiden uns für das Nichtstun und lassen das, was dann geschieht, mit uns geschehen.

Über den Autor Pfarrer Christian Olding

Pfarrer Christian Olding, geboren 1983, wuchs in Niedersachsen auf. 2011 empfing er die Priesterweihe und ist derzeit in der Pfarrei St. Maria Magdalena am Niederrhein tätig. Mit seinem Projekt v_the experience arbeitet er daran, den Glauben in seiner ganzen Alltagsrelevanz zu vermitteln.

Kontakt: christian.olding@gmail.com
Internet: www.youtube.com/c/vtheexperience