"Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe". Das ist der Titel eines Buches von Helga Schubert. Die 83jährige erzählt in diesem Buch von ihrem 96 Jahre alten, schwer kranken Mann und ihrem Alltag mit ihm. Sie nennt ihn "Derden". Derden steht für "der, den ich liebe". In einem Kapitel spricht sie in Gedanken unter anderem mit ihrem Mann, erinnert ihn an gemeinsame Erlebnisse, spricht über eigene Ängste und resümiert:
"Vielleicht liebte ich das Leben mehr, seitdem ich nicht mehr so genau Bescheid wissen wollte, seitdem ich zugeben musste, dass es Dinge gab, die ich nicht vorhergesehen hatte. Es war mir davor bis zur Qual, bis zur Hochspannung wichtig, dass ich Herrin über mein Leben war." [1]
Ein paar Zeilen später heißt es:
"Ach, ich habe mein Leben und auch deins beschwert. Mit Vorausgedanken." [2]
Beim Lesen dieser Zeilen fühle ich mich ertappt. Vorausgedanken. Gedanken, die um etwas kreisen, von dem ich gar nicht weiß, wie dieses Etwas passieren wird. Gedanken, die mich um den Schlaf bringen und die oft genug am nächsten Morgen, bei Tageslicht betrachtet, zusammenschrumpfen. Gedanken, die sich in Luft auflösen, weil nichts von dem passiert, was mir an beängstigenden Vorstellungen im Kopf herumschwirrte. Aber sie sind gute Kerkermeister. Halten mich gefangen und lassen nicht zu, mal einfach dem Leben zu vertrauen. Sie erschweren es, auch mir selbst zu vertrauen, dass ich es zu gegebener Zeit schaffen kann, mit den nicht vorhersehbaren Umständen umzugehen. Vorausgedanken können zum blinden Aktionismus verleiten wie es allerorts zum Beginn der Corona-Pandemie beim Hamstern von Toilettenpapier zu erleben war.
So betrachtet sind Vorausgedanken Zeitverschwendung. Lebenszeitverschwendung. Sie beschweren das Leben und behindern es.
Jesus legt seinen Jüngerinnen und Jüngern Folgendes an Herz: "Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage." (Mt 6, 34)
Wie naiv muss man sein, um sich daran zu halten, könnte man kritisch hinterfragen. Ist es denn nicht wichtig, vorausschauend zu denken und zu planen? Nicht alles, was man zum Leben braucht, wird einem geschenkt.
Doch darum geht es Jesus auch gar nicht. Seine Worte sind kein Plädoyer dafür, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, was der Tag so bringen könnte. Jesus geht es darum, den Dingen den richtigen Stellenwert zu geben. "Suchet zuerst das Reich Gottes!", sagt er denen, die ihm folgen. Mit anderen Worten: Richtet euer Leben nach Gott aus und nach der Liebe, die er für die Menschen hat. Nach meiner Erfahrung ist es so: Wenn Gottes Liebe die Richtschnur, das Vorbild für mein Handeln ist, dann sehe ich das Notwendige, das im Augenblick zu tun ist und habe gar keine Zeit, mich in Vorausgedanken zu verstricken. Ich tue das, was im Moment dran ist. Das ist oft ganz simpel: ein Essen für die Familie kochen, sich die Sorgen der besten Freundin anhören oder einem Touristen den Weg zeigen.
Ich glaube daran, dass alles andere sich fügen wird, denn Gott weiß, was wir brauchen. Den Sorgen keinen Raum geben. Er steht ihnen nicht zu. Denn sie bringen einen dazu, das zu verpassen, worauf es wirklich ankommt.
Glücklich der Mensch, dem das gelingt, den Vorausgedanken rechtzeitig den Garaus zu machen. Sie wegzuschicken: hier ist kein Platz für euch. Hier wartet das Leben auf mich.
[1] Helga Schubert, Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe, München 2023, 211.
[2] Ebd. 212