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Stundenbuch der Liebe

Morgenandacht, 13.11.2024

Christopher Hoffmann, Neuwied

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Ein Leben zwischen Büchern und Blasenkathetern - das ist der Alltag der renommierten Schriftstellerin Helga Schubert. Mit 80 Jahren wurde sie für ihre Erzählung "Vom Aufstehen" mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. In ihrer Literatur ist immer wieder ihr turbulentes Leben Thema: der Vater, den sie nie kennenlernte, weil er im Zweiten Weltkrieg gefallen ist; die Mutter, von der sie nicht geliebt, sondern abgelehnt wird; das Leben als Christin in der DDR mit allen Schikanen des Unrechtsregimes; und eine Krebserkrankung, die sie tief geprägt hat.

Und auch jetzt verläuft ihr Leben noch turbulent. Sie ist inzwischen 84 Jahre alt und pflegt ihren 97-jährigen Ehemann.  Und sie schreibt weiterhin, meistens nachts. Lässt dabei Liebe und Leid, die pflegende Angehörige erleben, zu Literatur werden. Etwa in ihrem Buch mit dem starken Titel: "Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe."

Das hat mich als Theologe neugierig gemacht, denn das Stundenbuch ist seit dem Mittelalter das Andachts- und Gebetbuch der Gläubigen. Die Christin Helga Schubert nennt im überwiegend konfessionslosen Nordwestmecklenburg ihr Werk ein Stundenbuch der Liebe – darüber wollte ich mehr erfahren.

Ich besuche Helga Schubert in Neu-Meteln, bei Schwerin. Die Nacht, sagt sie, war schrecklich, ihr Mann hatte eine Panikattacke. Nun hebt sie ihn aus dem Bett in den Rollstuhl. Ich frage sie: "Frau Schubert, kann ich das mit dem Stundenbuch so verstehen, dass auch die Pflege von Menschen ein Gebet sein kann?" Helga Schubert bejaht das ausdrücklich. "Pflege ist Gebet. Weil Menschendienst auch Gottesdienst ist." In ihrem Tun fühlt sie sich von Gott bestärkt. Sie schreibt:

"Gerade hatte ich von einer Hannoveraner Pastorin einen Brief bekommen mit der Frage, wie ich alles bewältige, was mir aufgegeben ist. Ja, aufgegeben ist. Das kann man glauben oder nicht. Ich glaube es: Gott hat zwar größere Sorgen, als einen unabsichtlich herausgerissenen Urinbeutel an einem Blasenkatheter wieder anklemmen zu lassen, […] aber wenn er mir das seit sechs Jahren täglich aufgibt, dann darf ich auch auf die Zuteilung von Kraft hoffen." [1]

Kraft. Die braucht sie. Ohne Pathos schildert sie die Pflegesituation bei ihr zu Hause. Ihre einzige Lösung, sagt sie, ist: Die Situation anzunehmen.

Im kürzesten Kapitel ihres Buches geht sie darauf ein. Es ist mein Lieblingskapitel. Nur vier Sätze lang, aber die bringen alles auf den Punkt:

"Dies ist unsere nächste Lebensaufgabe: Annehmen. Kreatürlich leben. Wärme auf der Haut. Verlass mich nicht." [2]

"Verlass mich nicht", – diese Bitte eines pflegebedürftigen Menschen zu erfüllen, das kann ein Gebet in Liebe sein. Und: "Verlass mich nicht" – das ist auch die Bitte an Gott, in dieser schwierigen Situation als pflegende Angehörige nicht allein gelassen zu werden.

Beten – mal mit gefalteten Händen zu einer höheren Macht. Mal mit einem gefalteten Waschlappen, um die Körperpflege zu gewährleisten. Mal die Worte immer wieder meditativ wiederholend wie beim Rosenkranz-Gebet. Mal deshalb wiederholend, weil sich Angehörige die Antwort auch beim zehnten Mal nicht merken können.

Umso mehr beeindruckt mich Helga Schuberts Antwort auf meine Frage wie das so ist, ein Leben zwischen Prosa und Pflege, 24 Stunden, 7 Tage die Woche. Sie sagt: "Ist ganz schön reich. Ist ein reiches Leben." [3]

Helga Schubert zeigt für mich eindrucksvoll, dass liebevolle Pflege dem Leben Sinn und Substanz geben kann. Aber sie geht auch an die Substanz. Deshalb gilt den Millionen Menschen, die in Heimen, Sozialstationen oder als Angehörige pflegen, mein größter Respekt. Und ich glaube in diesem Sinne, wird auch in Deutschland jeden Morgen ganz schön viel gebetet.


[1] Helga Schubert: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, S.99.

[2] Helga Schubert: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, S.188.

[3] https://fernsehen.katholisch.de/katholische-horfunkarbeit/feiertag-deutschlandfunk-kultur/feiertag-17032024, Asudruck vom 26.10.2024, 19:57 Uhr.

Über den Autor Christopher Hoffmann

Christopher Hoffmann, geboren 1985 im Hunsrück, ist Pastoralreferent und Rundfunkbeauftragter bei der Katholischen Rundfunkarbeit am SWR.  Nach dem Studium der Theologie in Trier und Freiburg und der Seelsorgeausbildung im Rheinland ist er aktuell in der Pastoral für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Raum Neuwied aktiv. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er am ifp in München. In seiner Freizeit liebt er Musik und singt seit vielen Jahren in verschiedenen Bands und Chören.

Kontakt: christopher.hoffmann@bistum-trier.de