Eine Freundin erzählt mir, dass es ihr sehr schwerfällt, offizielle Anträge auszufüllen. Nur, wenn sie von vornherein weiß, dass sie das Beantragte wirklich bekommt, fiele es ihr leicht. Also zum Beispiel beim Personalausweis. Anders war es, als es um eine geplante Mutter-Kind-Kur ging, die, als sie diese dann doch beantragt hatte, erst einmal abgelehnt wurde. Im Laufe ihrer Jahre hatte sie so manchen Antrag in verschiedenen Angelegenheiten gestellt, und dabei oft genug Niederlagen einstecken müssen.
Im Gespräch mit einer Beraterin kam heraus, dass sie regelrecht Angst davor hatte, Anträge zu stellen. Die Angst wieder enttäuscht zu werden. Die Angst, mit ihrem Anliegen nicht für voll genommen zu werden. Die Beraterin habe meiner Freundin ein Blatt Papier und einen Stift über den Tisch geschoben. "Malen Sie mal auf, wie die Angst sich anfühlt", war der Auftrag. Viel Zeit hatte sie nicht. Also malte sie intuitiv eine große dunkle Wolke. Die seitlichen Enden der Wolke schlossen sich wie Bindfäden zu einem Kreis. In die Mitte des Kreises malte sie sich selbst. Als Strichmännchen. Und das Gesicht. Augen, Nase, Mund. Fertig. Sie will das Blatt der Beraterin zuschieben, als sie plötzlich innehält. Was war das? Sie hatte ins Gesicht einen lachenden Mund gemalt. Steht ein lachender Mund nicht dafür, dass es einem gut geht, dass man sich wohlfühlt?
Plötzlich wird ihr selbst die Antwort klar: sie hat sich in der Angst eingerichtet. Die Angst war ihre Komfortzone. Eine Überlebensstrategie. Die Angst vor Enttäuschungen hat sie davor geschützt, enttäuscht zu werden. Weil sie den Dingen, bei denen sie hätte enttäuscht werden können, nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Gab es aus diesem Dilemma eine Lösung? Zum Beispiel in Widerspruch gehen, wenn ein Antrag abschlägig beschieden wurde. Davor hatte sie wieder Angst. Denn sie wusste aus Kindheitstagen: Es hatte keinen Zweck aufzubegehren, am Ende bestimmten immer die, die das Sagen hatten. Mit der Hilfe der Beraterin bekam sie eine neue Sicht auf die Dinge. Sie war kein Kind mehr. Sie war nicht mehr abhängig von den Großen. Sie war erwachsen. Das hieß, auch als Erwachsene zu handeln. Sich von der Angst nicht ausbremsen zu lassen.
Als meine Freundin mir das alles erzählt, bin ich beeindruckt. Ja, Angst hat wirklich eine unglaubliche Macht. In der jetzigen Zeit erlebe ich besonders oft, wie die Angst bei den Menschen umhergeht. Da ist die Angst vor vermeintlicher Überfremdung wegen der vielen Flüchtlinge in unserem Land. Die Angst zu kurz zu kommen. Die Angst, den Lebensstandard nicht halten zu können. Innerhalb meiner Kirche sehe ich bei einigen Bischöfen, aber auch bei sehr konservativen Katholiken, eine ungeheure Angst vor den notwendigen Veränderungen, die es dringend braucht.
Die Angst ist wie ein Tunnelblick. Oder um es mit den Worten des Theologen Fulbert Steffensky zu sagen: "Wer Angst hat, sieht nur die Gefahr". Ich übertrage dieses Zitat auf die Ängste, die ich derzeit erlebe: wer nur die Gefahr der vermeintlichen Überfremdung sieht, sieht nicht den Schmerz und die Not der Flüchtlinge, die der Krieg aus ihrer Heimat vertrieben hat. Wer nur die Gefahr vor Augen hat, zu kurz zu kommen, sieht nicht, wie gut es ihm eigentlich geht. Man kann sich auch in diesen Ängsten einrichten.
Ich stimme Fulbert Steffensky zu, wenn er schreibt: "Es ist schwer, Meister seiner Ängste zu werden." Meine Freundin würde noch hinzufügen: "Aber es ist nicht unmöglich."