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Untergangsszenario

Morgenandacht, 15.04.2024

Markus Potthoff, Essen

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Heute ist der Titanic Gedenktag – er erinnert an den Untergang des damals weltweit größten Passagierdampfers. In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 kollidierte die Titanic mit einem Eisberg. Knapp drei Stunden nach der Kollision versank das Schiff, obwohl es durch seine Unterteilung in wasserdichte Schotten eigentlich als unsinkbar galt. Mehr als 1500 Passagiere und Bordmitglieder wurden in den Tod gerissen.

Das Bild vom Untergang der Titanic hat eine ikonische Bedeutung erlangt. Der Untergang der Titanic entwickelte sich im Laufe der Zeit zum Synonym für Ereignisse, die sich überraschend, ja die sich wider Erwarten zur Katastrophe entwickeln. 

Titanic-Momente gibt es heute auch in der katholischen Kirche. Wer auf die heutige Lage der Kirche in Europa schaut, dem kann sich tatsächlich das Bild vom Untergang der Titanic aufdrängen. Vor einiger Zeit hat sogar Kardinal Hollerich, ein hochrangiger Kirchenvertreter aus Luxemburg, die These formuliert, es könne sein, dass das Christentum aus Europa nahezu verschwinde. Wird also das Szenarium eines Kirchenuntergangs in Europa von der Kirche selbst bereits als Möglichkeit eingeräumt?

Ob es wirklich zum Untergang der Kirche kommen wird, daran habe ich Zweifel. Aber ohne Frage: die Lage der katholischen Kirche ist prekär. Der Prager Priester und Religionsphilosoph Tomáš Halík hat den Vergleich mit einem sinkenden Schiff bereits vor einigen Jahren gezogen: Das Christentum sei wie ein "großes Schiff", das zum Grund sinke. Halík meinte, der Untergang sei ausgemacht und deshalb sei es Zeitverschwendung, "die Liegestühle der Titanic hin und herzuschieben." Die Kirche täusche sich, wenn sie glaube, die Abgründe rund um sexuelle Gewalt in der Kirche, das persönliche und institutionelle Versagen im Umgang damit und den daraus resultierenden Vertrauensverlust unverändert überstehen zu können. Theologisch bildhaft sagt Halík: "Der Tod ist wichtig und unvermeidlich." Die darauf folgende Auferstehung aber könne keine schlichte Rückkehr in eine Vergangenheit sein, keine Wiederherstellung eines vorherigen Zustandes.

Dass die beiden großen christlichen Kirchen bereits im nächsten Jahrzehnt viel kleiner sein werden, ist längst ausgemacht. Der Sog der Säkularisierung und der Entkirchlichung läuft ungebremst. Für viele Menschen, auch für manche Christinnen und Christen, ist der christliche Glaube nicht mehr mit dem eigenen Leben verknüpft. Und viele sind der Überzeugung, es lebe sich ganz gut auch ohne die in einer Kirche institutionalisierte Religion.

Als Mitarbeiter dieser Kirche finde ich: Darin liegt auch eine Chance. Die Kirche muss heute viele Lektionen lernen; dazu gehört auch zu verstehen, dass sie eine "Gemeinschaft von Pilgern" ist, das bedeutet: dass sie unterwegs ist, dass sie nicht mehr als ein "Haus von Glorie" dasteht. Der Glaube der Christen wird bescheidener daherkommen und die Identität der Christen wird wie bei Pilgernden eine suchende sein. Der institutionelle Einfluss und die Präsenz der Kirche wird geringer sein als zu vergangenen Zeiten. Aber die Christen werden eine kreative Minderheit sein, die sich aktiv und profiliert und in den Diskurs, in die Fragen und Nöte der Zeit einbringt – nicht in einer Nische, sondern mittendrin in dieser Gesellschaft.  

Ja, eine Gestalt der Kirche steht vor dem Untergang, aber – da bin ich sehr zuversichtlich - eine andere Kirchengestalt ist im Entstehen. Und auf diesem Weg wird die Kirche ihrer Aufgabe treu bleiben: in einer Verwandlung, die zugleich ein neuer Anfang ist.  


Quelle: Halík, Tomáš: Nachtgedanken eines Beichtvaters. Glaube in Zeiten der Ungewissheit, Freiburg, 4. Aufl. 2014; und: Interview in der Herderkorrespondenz 2/2013.

Über den Autor Markus Potthoff

Markus Potthoff wurde 1963 in Bochum geboren. Nach dem Studium der Theologie und Philosophie ist er seit 1994 im Dienst des Bistums Essen tätig. Zurzeit leitet er die Hauptabteilung "Pastoral und Bildung" im Bischöflichen Generalvikariat in Essen.

Kontakt: markus.potthoff@bistum-essen.de