Im letzten Sommer habe ich im Süden von Frankreich Urlaub gemacht. In der Gegend zwischen Rhone-Tal und Mittelmeer stehen noch viele beeindruckende Gebäude aus der Römerzeit. Das Amphitheater in der Stadt Nimes ist bis heute unübersehbar. Der mehrstöckige, runde Bau fasste viele tausend Zuschauerinnen und Zuschauer. Wer sich die Mühe macht, über die Sitzreihen ganz nach oben zu klettern, wird mit einem wunderbaren Ausblick belohnt.
So eindrucksvoll die römischen Amphitheater auch sind – ich kann sie nicht ohne eine gewisse Beklommenheit betreten. Hier fanden in der römischen Kaiserzeit, also in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, Gladiatorenspiele und Hinrichtungen statt. Ausgebildete Kämpfer traten gegeneinander und gegen wilde Tiere an.
"Brot und Spiele" – mit dieser Strategie versuchte das Römische Reich seine Bevölkerung ruhig zu halten. Spiele – das bedeutete Unterhaltung, aber die Art von Spielen, die das Publikum in den Amphitheatern verfolgte, war auch Abschreckung und Warnung: Wer sich gegen den römischen Staat stellt, der wird von ihm vernichtet.
Heute bewundern wir die Zivilisation des römischen Reichs für ihre kulturellen und technischen Errungenschaften, für Dichtung und Kunst. Auch in Deutschland haben viele Orte ihre Wurzeln in der Römerzeit und sind stolz auf ihr archäologisches Erbe. Doch das römische Reich war auch ein unterdrückerisches Regime, das in vielen Ländern Nordafrikas, Europas und des Mittleren Ostens als Besatzungsmacht die Bevölkerung ausbeutete. In diesem Kontext ist das Christentum entstanden. Eine Religion, die einen wegen Aufruhrs Hingerichteten als Erlöser der Welt begreift. Angesichts der monumentalen Architektur des Amphitheaters entweder grenzenlos naiv oder eine beispiellose Provokation.
Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich den Blick über die Reihen des Amphitheaters schweifen lasse. Für eine Mehrheitsgesellschaft, die das blutige Spektakel im Amphitheater als unheimliche und schockierende, aber doch auch alltägliche Belustigung verstand, muss der Glaube der Christen komplett lächerlich gewirkt haben: Jesus von Nazareth, der menschgewordene Gott, stirbt als Verbrecher am Kreuz und wird von den Toten auferweckt. Wie absurd diese Vorstellung für die Zeitgenossen Jesu war, belegen bereits die Texte des Neuen Testaments: Paulus spricht in einem seiner Briefe davon, dass der Glaube an den gekreuzigten Gottessohn entweder als Gotteslästerung oder aber als Torheit, als barer Unsinn verstanden wird.
Barer Unsinn – oder ein kraftvoller Akt des Widerstands. Dass in einer Welt, in der der Einzelne nichts zählt, die Geschichte eines einzelnen, von der Staatsmacht vernichteten Menschen weitererzählt wird, allein darin liegt für mich Widerstand gegen ein menschenverachtendes und unterdrückerisches Regime. Dass Menschen in dieser Geschichte Trost für ihr Leben finden und sie gemeinsam feiern – aller herrschenden Meinung zum Trotz – das beeindruckt mich noch mehr als die imposante Architektur der römischen Großbauten.
Wer Ostern feiert, feiert die Geschichte eines Einzelnen. Allein das Erzählen dieser Geschichte ist Protest. Protest gegen alle Kräfte, für die der Einzelne nichts zählt, Protest gegen Gewalt, die Lebensgeschichten vernichtet, Protest gegen unterdrückerische Mächte, die über Leichen gehen.
Wer Ostern feiert, bekennt Gott als Verbündeten dieses Protests. In der Auferweckung Jesu ergreift Gott Partei für die Opfer der Gewalt. Sie sind nicht ausgelöscht. Ihr Leben ist in Gott bewahrt. Wer Ostern feiert, widerspricht der Macht des Stärkeren. Bis heute.