Er zieht einen sofort in seinen Bann: Der große Flügelaltar in der Eingangshalle des Paderborner Diözesanmuseums; zu sehen sind zwei schmale Seitentafeln mit Gestalten von Heiligen. Diese Seiten stammen vom bekannten Künstler Lucas Cranach aus dem 16. Jahrhundert. Doch in der Mitte befindet sich nun eine große goldgefasste Mitteltafel, die aus unserer Zeit stammt. Dieses Retabel, wie man es mit einem Fachausdruck nennt, ist für den Westchor des Domes zu Naumburg neu gestaltet worden.
Man hatte einen zeitgenössischen Künstler beauftragt, eine neue Mitteltafel zu schaffen. Michael Triegel aus Leipzig hat das meisterhaft gemacht, denn ihm ist etwas gelungen, was man in der christlichen Kunst eher selten antrifft. Wer sich die Darstellung ansieht, spürt sofort: die dort abgebildeten Personen treten mit mir, dem Betrachter, in einen Dialog. Die Gesichter schauen den Betrachter an. Es sind Gesichter, die aussehen, als kämen sie aus unserer Zeit, als seien sie Menschen unseres Alltags. Und mittendrin ist die thronende Madonna mit dem Jesusknaben in Gesellschaft mit Heiligen zu sehen.
Eigentlich eine ganz klassische Situation auf christlichen Darstellungen, doch auch das Kind hat hier ein "Alltagsgesicht" und schaut ein wenig "quengelig" drein – ganz so, als wäre ihm die Umgebung nicht recht. Die Gottesmutter Maria hält es dem Betrachter entgegen, als solle er es jeden Moment übernehmen.
Dem 54jährigen Michael Triegel ist hier etwas ganz Besonderes gelungen. Eine neue Form der "Sacra Conversazione" der "heiligen Konversation". So bezeichnet man in der bildenden Kunst traditionellerweise die Darstellung der Muttergottes mit dem Jesusknaben in Gesellschaft mit Heiligen. Aber hier kommunizieren sie eben nicht untereinander sondern mit dem Betrachter. Ich werde mit hineingezogen, als würden die dargestellten Personen mir sagen: "Schau her, das hier geht hier dich an." Die christliche Botschaft springt mir geradezu ins Auge. "Dieses Kind ist auch für dich auf die Welt gekommen, nimm es auf in dein Leben."
Lasse ich mich von den abgebildeten Alltagsmenschen betrachten, so fällt mir auf, dass sich manche durch ihre Attribute als bekannte christliche Heilige identifizieren lassen: Darunter die heilige Agnes und Elisabeth von Thüringen. Es sind alles starke Frauen, die ihr Leben eingesetzt haben, um den Glauben an Gott zu bezeugen, hoch zu halten und weiterzugeben.
Sie stehen in der Gefolgschaft einer anderen starken Frau, von der heute im Gottesdienst des Tages in einem Abschnitt der Apostelgeschichte berichtet wird: Es ist die Purpurhändlerin Lydia aus der kleinen asiatischen Stadt Thyatira. Sie hört der Predigt des Apostel Paulus zu, der ihre Stadt besucht. Von seiner Botschaft lässt sie sich im Herzen berühren und so begeistern, dass sie Paulus und seine Begleiter drängt, bei ihr einzukehren: "Wenn ihr überzeugt seid, dass ich fest an den Herrn glaube, kommt in mein Haus, und bleibt da." (Apostelgeschichte 16,15).
Das Andenken an sie wird auch deshalb hoch gehalten, weil sie eine der ersten war, die auf die Botschaft des Evangeliums in der dortigen Gegend so positiv reagiert hat und dafür gesorgt hat, dass der Glaube weitergetragen wird.
Das neue Mittelteil an Cranachs Flügelaltar zeigt zweierlei: mir persönlich, dass ich meinen christlichen Glauben auch dem Zeugnis starker Frauen zu verdanken habe. Und ganz allgemein, dass es Alltagsmenschen waren, Menschen wie du und ich, die wir heute als Heilige oder große Gestalten der Geschichte in Erinnerung behalten. Sie ermutigen mich, genau wie sie, dieses Jesuskind in mein Leben aufzunehmen und mich von ihm leiten zu lassen.