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Standesgnade

Morgenandacht, 15.11.2024

Christopher Hoffmann, Neuwied

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Heute vor 117 Jahren wurde Claus Schenk Graf von Stauffenberg geboren. In diesem Jahr wurde seinem gescheiterten Attentat auf Hitler zum 80. Mal gedacht. Es war keine Tat eines Einzelnen – hinter dem 20. Juli 1944 stand ein großes Netzwerk von Widerstandskämpfern. Und hinter Claus Schenk Graf von Stauffenberg stand eine große Familie.

Im Sommer hatte ich die Gelegenheit eine Nachfahrin dieser Familie kennenzulernen. Sophie von Bechtolsheim, von Stauffenbergs Enkelin. Die heute 56-Jährige hat oft mit ihrer Großmutter, Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg, über den 20. Juli gesprochen und über all das, was danach passierte. Schon drei Tage nach dem Attentat wurde Stauffenbergs Ehefrau von der Gestapo verhaftet. Etwas später kommt sie in Einzelhaft ins KZ Ravensbrück. Da ist sie mit dem fünften Kind schwanger. Als Witwe. Der Ehemann noch in der Nacht des Umsturzversuchs erschossen, die anderen vier Kinder zur Umerziehung in ein nationalsozialistisches Kinderheim gesteckt.

Um in dieser Situation zu bestehen und nicht durchzudrehen, habe Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg sich um eine Tagesstruktur bemüht. Morgens Turn- und Gymnastikübungen gemacht. Abends geistig ganze Dichterlesungen und Konzerte durchlebt, um sich abzulenken. Und dann zeigt mir Sophie von Bechtolsheim mehrere Karten aus Pappe, die sie von ihrer Großmutter geerbt hat – darauf sind filigran gemalte Könige, Damen oder Bauern zu sehen. Ein Kartenspiel, das sie in der Haft aus leeren Zigarettenschachteln gebastelt hatte, die ihr Gefängniswärter heimlich zugesteckt hatten.

Ein fester Anker von Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg war in dieser schweren Zeit ihr Glaube an Gott. Zu ihrer Enkelin sagte sie einmal: "Da wächst einem etwas zu, von dem man vorher nicht wusste, dass man es hat, nämlich Standesgnade."

Standesgnade – das hat nichts mit Standesdünkel oder Adelsstand zu tun, dem die Stauffenbergs ja alle entstammten. Standesgnade, das ist ein Begriff, den es in der christlichen Tradition schon lange gibt. Es meint, dass jeder Mensch von Gott die Gnade erhält, die er zur Erfüllung seiner je eigenen Pflicht oder Aufgabe benötigt. Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg hat es laut ihrer Enkelin so umschrieben: "Es ist eine Kraft, die man vom Himmel bekommt, um das auszuhalten. Und dann auch darauf zu vertrauen: Gott wird mir die Kraft schenken, das zu bewältigen."

Mich berühren diese Worte sehr, vor allem weil ich sie so oder so ähnlich schon oft gehört habe. Bekannt ist das Wort von Dietrich Bonhoeffer, der im Widerstand gegen die Nazis selbst in Haft genommen und umgebracht wurde. Er hat seine Erfahrung so beschrieben: "Gott will uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen."

Ich muss dabei auch an meine Großmutter denken. Nicht weil sie ähnliches im Krieg erlebt hätte, aber weil auch sie von dieser Erfahrung berichtet hat: Schon mit Ende 30 und als Mutter dreier damals kleiner Kinder, war sie aufgrund einer schweren Krankheit plötzlich an den Rollstuhl gefesselt. Immer hat sie gesagt: "Wenn ich meinen Glauben nicht hätte, wüsste ich nicht wie ich das alles aushalten soll."

Ich habe es dabei nicht so erlebt, dass der Glaube sie auf ein Jenseits vertröstet und ihre Zweifel oder Sorgen stillgestellt hat – sicher hat auch sie mit ihrem Gott gehadert und im Gebet mit ihm gerungen. Aber die Hoffnung auf diesen Gott, der ihr das Leid nicht ersparte, der aber im Leid bei ihr blieb, die gab meiner Großmutter eine Widerstandskraft, eine Gnade, von der auch Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg sprach. "Eine Kraft, die einem vom Himmel zuwächst", so brachte sie es ins Wort. Diese Erfahrung wünsche ich allen, vor allem aber denen, die gerade durch schwere Zeiten gehen müssen.

Über den Autor Christopher Hoffmann

Christopher Hoffmann, geboren 1985 im Hunsrück, ist Pastoralreferent und Rundfunkbeauftragter bei der Katholischen Rundfunkarbeit am SWR.  Nach dem Studium der Theologie in Trier und Freiburg und der Seelsorgeausbildung im Rheinland ist er aktuell in der Pastoral für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Raum Neuwied aktiv. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er am ifp in München. In seiner Freizeit liebt er Musik und singt seit vielen Jahren in verschiedenen Bands und Chören.

Kontakt: christopher.hoffmann@bistum-trier.de