Manche christliche Tradition – zumal, wenn sie ihre Wurzeln im Mittelalter hat – mag aus heutiger Sicht kurios oder verstörend wirken. Am Anfang dieses Jahres ist mir in Bayern eine solche Tradition begegnet. Bei näherer Betrachtung ist sie vielleicht sogar wie für unsere Zeit gemacht. Ich war in einer Pfarrkirche, die den Namen der Heiligen Wilgefortis trägt. Von ihr hatte ich noch nie gehört. Ich wollte wissen, was für eine Geschichte hinter diesem Namen steckt und machte mich auf die Suche.
Wilgefortis – der Name leitet sich von virgo fortis ab. Das bedeutet: starke Jungfrau. Ihre Geschichte spielt in Portugal. Als schöne, junge Königstochter soll sie mit einem Mann verheiratet werden, doch Wilgefortis will nicht. Darum bittet sie Gott, sie vor der nicht gewollten Ehe zu bewahren: Er möge sie so hässlich machen, dass kein Mann sie in Zukunft begehrt. Da wächst ihr ein Bart. Entsetzt wendet sich der Bräutigam von seiner bärtigen Braut ab – und der Vater ist über die Veränderung seiner Tochter so erzürnt, dass er sie kreuzigen lässt.
Soweit die Legende der Heiligen Wilgefortis, die als bärtige, junge Frau am Kreuz dargestellt wird. Über die Niederlande ist die Geschichte der Heiligen Wilgefortis im Spätmittelalter nach Deutschland gelangt. Hier wird sie auch die Heilige Kümmernis genannt.
Doch es gibt eine zweite Spur für diese Tradition und die führt in die Toskana, wo eine Darstellung des gekreuzigten Christus verehrt wird, der mit einer langen Tunika bekleidet ist. Als diese Art der Bekleidung für Männer nicht mehr üblich war, wurde das lange Gewand als weibliches Kleidungsstück aufgefasst – und der gekreuzigte Christus als Frau interpretiert. Diese Bildtradition und die Geschichte die Königstochter, die für ihren widerständigen Glauben ermordet wird, finden in der Verehrung der Heiligen Kümmernis zusammen. Über viele Jahrhunderte war die bärtige Heilige für viele Gläubige eine Begleiterin in den Sorgen und Nöten des Alltags. Gerade von ihr erhoffte sie sich Trost und Rettung, zum Beispiel bei Unfällen, Krankheiten oder Kinderlosigkeit.
Trotz aller Kuriosität berührt mich etwas an der Geschichte der Heiligen Wilgefortis. Sie erinnert mich an die vielen Frauen, die sich zur Wehr setzen, wenn ihnen Lebensentwürfe aufgezwungen werden – und die dafür bis heute mit ihrem Leben bezahlen. Sie erinnert mich an die Menschen, die sich zwischen den Geschlechtern fühlen und dafür Unverständnis und Ablehnung erfahren. Wie verrückt, dass ausgerechnet im christlichen Mittelalter eine Heilige populär wird, die zumindest ihrem Aussehen nach zwischen den Geschlechtern steht!
Im Kinofilm "Konklave", der in den vergangenen Monaten viele Preise gewonnen hat, wird am Ende ein Kardinal zum Papst gewählt, der ebenfalls die bekannten Kategorien sprengt. Er steht auf keiner Liste und niemand wusste bisher von ihm. Und: Auch er steht biologisch zwischen den Geschlechtern. In einem Vier-Augen-Gespräch am Ende des Films bringt er zum Ausdruck, dass er dadurch alles, was unsere Gegenwart ausmacht, aus seiner eigenen Lebensgeschichte kennt: Das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen, existentielle Verunsicherung und Erschütterung, der Verlust aller Klarheiten. In dieser Filmszene erscheint der gewählte Papst als verwundeter und zerbrechlicher Mensch. Gerade deshalb aber, so die Botschaft des Films, ist er der Richtige, um den Menschen Hoffnung zu geben.
Die alte Pfarrkirche Sankt Wilgefortis ist ein kleines, barockes Schatzkästchen. Sie bewahrt mit der Heiligen Kümmernis eine Schutzpatronin des Uneindeutigen, der Irritation und des Dazwischen. Eine Trösterin, auch für unsere Zeit.