Wie werde ich heute Abend auf diesen Tag schauen, der gerade erst beginnt? Ein Gefühl für den Tag ist schon da. Ich weiß ungefähr, was kommt: Termine im Dienstkalender, Besorgungen, die anstehen, eine Verabredung am Abend. Der äußere Rahmen steht. Das Wesentliche wird sich darin ereignen. Wie es läuft; wie ich den Anliegen und Themen gerecht werde – und den Menschen, die ich treffe.
Manchmal frag‘ ich mich, wo der Tag, die vergangene Woche oder die letzten Monate geblieben sind. Tatsächlich vergeht mit den Jahren die Zeit schneller. – Was hab‘ ich all die Zeit gemacht? Auf den ersten Blick ist es einfach, mir diese Frage zu beantworten. Auf den zweiten Blick zeigt sich mehr: Emotionen, Stimmungen, Auswirkungen, ergriffene oder verpasste Chancen. Manchmal aber bekomme ich einzelne Momente gar nicht in der Tiefe mit. Die Tage fliegen vorbei. – Ist wirklich schon wieder Mitte Oktober?
Ein richtig gutes Alltagswerkzeug in diesem Zusammenhang ist für mich das so genannte "Gebet der liebenden Aufmerksamkeit". Es stammt von Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesuitenordens. Es ist anspruchsvoll, aber nicht aufwendig. Es geht darum, mir jeden Tag eine Viertelstunde Zeit zu nehmen. Zeit, die dafür da ist, dass von außen nach innen, vom Kopf ins Herz und vom Herz wieder ins Leben fließen kann, was sich mir im Blick auf meine Tage zeigt.
Konkret geht das so: Ich nehme mir die Viertelstunde und setze mich dafür in eine ruhige Ecke. Dann mache ich mir bewusst, dass Gott liebevoll auf mich schaut. Diesen liebevollen Blick lasse ich auf mich wirken… und koste das aus. Und dann lasse ich vor meinem inneren Auge revuepassieren, was heute alles war. Ich be- oder verurteile die einzelnen Dinge nicht, sondern ich mache sie ganz einfach sichtbar. Dabei schiebe ich meine Reaktionen und Gefühle nicht beiseite, sondern ich spüre bewusst nach, was alles los war und was es in mir ausgelöst hat.
Bei all dem geht es nicht um ein moralisches Richtig oder Falsch. Vielmehr mache ich mir ehrlich bewusst, was sich in meinem Leben ereignet, auch auf den zweiten Blick. Ich verschaffe mir Abstand. Ich unterbreche, was mich jeden Tag fordert oder treibt und lasse mich – wie Ignatius es sagt – in liebender Aufmerksamkeit "von Gott mit der Wirklichkeit umarmen", wie sie ist.
So beginne ich klarer zu sehen, was mich bestimmt: Was mich gern bestimmen darf, weil es mein Leben, Lieben und Tun bereichert und fördert, und was mich besser nicht bestimmen sollte, weil es mich lähmt, kleinmütig oder rücksichtslos macht. Einiges davon werde ich morgen wiederfinden. Aber in der Haltung der liebenden Aufmerksamkeit bietet sich mir überhaupt die Chance wahrzunehmen, was morgen und übermorgen nicht so weitergehen soll wie heute – damit es gut weitergeht.
Sichtbar machen, Anschauen, Einfühlen, nicht be- oder verurteilen, sondern liebevoll Klarheit und Freiheit gewinnen für die Gestaltung meines Lebens. Die einzelnen Schritte des "Gebets der liebenden Aufmerksamkeit" entfalten ihre erhellende und ordnende Kraft auch ohne den religiösen Rahmen. Als Glaubende aber wünsche ich jedem Menschen aus ganzem Herzen die Erfahrung und den Segen der liebenden Aufmerksamkeit Gottes: wie er mich sieht, auf mich wartet, mich berührt, mit mir das Leben ordnet und mich behutsam durch die Tage führt – in guten wie in harten Zeiten.