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Nikodemusgespräch

Morgenandacht, 17.04.2023

Pfarrer Dr. Christoph Seidl, Regensburg

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Es ist spät geworden. Sehr spät. Bei einer Konferenz habe ich nach vielen Jahren einen Kollegen aus alten Zeiten wieder getroffen. Das war eine Freude! Am Abend bei einem Glas Wein gab es viel zu erzählen: Geschichten von früher, was sich in der Zwischenzeit so ereignet hat – und dann gerieten wir ins Philosophieren – über Gott und die Welt, wie in alten Zeiten! Es war das Gefühl, dass da eine gemeinsame Wellenlänge da ist.

Dabei waren wir uns gar nicht in allen Themen einig. Aber wir spürten eine grundlegende Übereinstimmung. Und ich habe tolle neue Anregungen mitgenommen für meine eigene Arbeit. Am nächsten Morgen hatten wir ziemlich kleine Augen, die Nacht war zu kurz. Eine Kollegin aus unserer Runde meinte: "Na, Ihr hattet wohl noch ein ziemlich langes Nikodemusgespräch gestern Abend, nicht wahr?" Nikodemusgespräch – genau, das war es. Der Begriff ist ziemlich abhandengekommen. Was soll das sein und von welchem Nikodemus ist hier die Rede?

Von ihm ist nur im Johannesevangelium des Neuen Testaments die Rede. Da heißt es, dass dieser Nikodemus mit Jesus ein Gespräch beginnt, das so intensiv ist, dass es bis tief in die Nacht geht. Jesus spricht darin von einer geistlichen Wiedergeburt, die notwendig für eine Gottesbegegnung sei, er beschreibt damit die Gottesbeziehung als ein spirituelles Geschehen. Nikodemus scheint davon überfordert zu sein, ein langes Hin und Her ergibt sich, möglicherweise mehrere Stunden lang. Vielleicht hat Nikodemus nie so ganz verstanden, was ihm Jesus nahebringen wollte, aber trotzdem fühlte er sich  angesprochen von ihm.

An einer späteren Stelle im Johannesevangelium (Joh 7,50–52) tritt nämlich dieser Nikodemus gegenüber den jüdischen Autoritäten für Jesus ein und verteidigt ihn. Ein drittes Mal wird er bei der Grablegung Jesu erwähnt, als er eine beträchtliche Menge von Myrrhe und Aloe zur Salbung des Leichnams bringt (Joh 19,39). Ganz sicher war das Ausdruck einer besonderen Beziehung zu Jesus. Grundgelegt wurde sie wohl im Nikodemusgespräch, dem wertvollen geistlichen Gespräch, das bis in die Nacht reichte.

Mich erinnert das Ringen um die spirituelle Dimension im Menschen sehr an eine Diskussion, die es im Bereich der Krankenseelsorge gibt. Während die einen darunter vor allem Gebete und Rituale verstehen, hat sich auf der anderen Seite mittlerweile unter dem Begriff "Spiritual Care" ein wesentlich erweitertes Verständnis von der geistlichen Sorge um die Kranken etabliert.

Mir hilft es, auf die ursprüngliche Wortbedeutung zu schauen: Im Wort "spirituell" ist das lateinische Wort "spiritus" enthalten, das Lufthauch und Atem bedeutet. Bei "Spiritual Care" geht es immer um die Sorge, was einen Menschen atmen lässt. Und das ist bei jedem anders! Es geht nicht um feste Vorgaben, was jetzt zu tun ist. Vielmehr soll der eigene Raum wieder weit werden, um eben gut atmen zu können. Es geht um die Frage: Was brauchst du jetzt? Und manchmal ist es einfach ein langes Gespräch. Es geht um Beziehung!

Wenn ich an das nächtliche Nikodemusgespräch mit meinem Kollegen denke: da ist mir das Herz aufgegangen. Ich habe da eine Weite erlebt, die mir gutgetan hat. Und ich hoffe und wünsche Ihnen, dass Sie heute auch etwas erleben, das Ihr Herz weit öffnet und Ihren Horizont erweitert! Es muss dazu nicht immer sehr spät werden!

Über den Autor Christoph Seidl

Pfarrer Christoph Seidl wurde 1967 geboren. Er stammt aus Regensburg und ist seit 1992 Priester im Bistum Regensburg. Nach der Kaplanszeit in Straubing arbeitete er in der Priesterausbildung mit und war Studentenpfarrer in Regensburg. Pfarrer Seidl ist als Seelsorger für Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen im Bistum Regensburg tätig und als Gemeindeseelsorger in Regensburg – Harting.

Kontakt: seidl@seelsorge-pflege.de