Kann eine Gesellschaft gerecht sein? Macht Gerechtigkeit gleich? Und wem schulden wir Gerechtigkeit? Je komplexer ein Gemeinwesen ist, umso schwieriger ist das zu lösen. Die Debatte um Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft scheint sich oft damit zu begnügen, Interessen gegeneinander zu verhandeln, insbesondere wenn es um soziale und materielle Leistungen geht.
Gerechtigkeit orientiert sich daran, was allen Menschen zusteht: nämlich ein Leben in Würde. Und das muss der Staat garantieren. Man könnte also denken, dass das Grundgesetz, das in Kürze 75 Jahre alt wird, dafür klare Regeln aufstellt. Artikel 1 erkennt die "Menschenrechte als Grundlage (…) auch der Gerechtigkeit in der Welt" an. Nur zweimal kommt das Wort Gerechtigkeit im Grundgesetz vor. Die Begriffe Solidarität, Sozialstaat und auch Soziale Marktwirtschaft kommen gar nicht vor. Eine Wirtschaftsform wird nicht festgelegt, aber wichtige Elemente wie das Recht auf Privateigentum, Berufs-, Gewerbe- und Unternehmerfreiheit, das Recht zur freien Wahl von Arbeit und Ausbildung. Und das Grundgesetz hält das Sozialstaatsprinzip fest. Der Gesetzgeber muss sich damit auch um die soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit kümmern. Das zeigt sich in der Gesetzgebung zum Beispiel bei Sozialversicherung, Steuergesetzgebung oder Krankenversicherung, und auch in der Finanzierung sozialer Leistungen wie Kindergeld, Wohngeld und Sozialhilfe. Jede neue Debatte zeigt, wie komplex diese Fragen sind, und dass um Gerechtigkeit immer neu gerungen wird. Der Zusammenhalt einer Gesellschaft hängt auch vom sozialen Frieden ab und von dem Gefühl, nicht grundsätzlich benachteiligt zu sein.
Gerechtigkeit bleibt darum der Orientierungspunkt staatlichen Handelns, verbunden mit Eigenverantwortung und Solidarität. Aus dem Personsein des Menschen ergibt sich ja sowohl die Verantwortung für sich selbst als auch für das Gemeinwesen, ebenso wie die Verantwortung des Staates für den einzelnen. Diese Wechselwirkung zeigt sich auch darin, dass Strukturen und Ordnungen so gestaltet werden, dass sie jedem Menschen ermöglichen, mit Freiheit und in Würde zu leben, die eigenen Fähigkeiten zu entfalten und einzubringen. Das ist nicht nur ein moralischer Appell, sondern braucht konkrete soziale Rechte.
Aus der Einmaligkeit des Menschen ergibt sich, dass Freiheit mit einem gewissen Maß an Ungleichheit verbunden ist. Nach dem Sozialstaatsprinzip ist es aber Aufgabe des Staates, soziale Unterschiede abzufedern. Das begründet etwa auch, dass der Staat allen Hilfsbedürftigen ein Existenzminimum garantieren muss und die existentiellen Lebensrisiken wie Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit solidarisch getragen werden.
Die gesellschaftliche Solidarität verbindet Generationen und lenkt den Blick auch auf die, die heute noch gar nicht geboren sind. Das kommt etwa bei der Frage der Klimagerechtigkeit zum Tragen, aber auch bei der Gestaltung des Rentensystems oder der Familienförderung. Solidarität ist eine wechselseitige Verantwortung aller für alle! Sie funktioniert nicht als Einbahnstraße und setzt auf die Eigenverantwortung und auf den Gemeinsinn aller Mitglieder einer Gesellschaft, sich mit ihren Fähigkeiten für die Verwirklichung des Gemeinwohls einzusetzen.
Solidarität ist eine Art "Kitt" der Gesellschaft. Sie kann weder verstaatlicht werden und den Einzelnen aus der Verantwortung nehmen, noch kann sie nur einzelne Interessen wahrnehmen. Verbunden mit dem Prinzip der Subsidiarität orientiert sie sich am Wohl des je Schwächeren! Solidarität beruht auf dem biblischen Menschenbild: Jeder Mensch ist Bild Gottes und deshalb sind alle Menschen Geschwister. In einer solidarischen Gesellschaft ist kein Mensch überflüssig!