Sie war schon zu Lebzeiten eine Legende: Hildegard von Bingen. Heute ist ihr Festtag im katholischen Kalender.
Keine Frau aus dem deutschen Mittelalter ist in der Gegenwart noch so präsent wie diese bemerkenswerte Nonne. Dabei kennen sie die meisten als Namensgeberin für vieles, was mit gesunder Ernährung und Naturheilkunde zusammenhängt: Und da wird Hildegard gnadenlos vermarktet: Kochbücher und medizinische Ratgeber tragen genauso ihren Namen wie Dinkelbrote, Kräutertees, Massageöle oder Duftsprays. Alles angeblich nach den Rezepturen der frommen Ordensfrau.
Ja, Hildegard hatte viele Talente. Ihre größte Begabung war die Fähigkeit, die Schöpferkraft Gottes unmittelbar zu erleben und in immer neuen, faszinierenden Bildern zu beschreiben. Diese Visionen, die auch der Papst anerkannte, begründeten Hildegards Ruf als "Prophetin". Mit den Großen ihrer Zeit stand sie in Kontakt. Kaiser Barbarossa und Bernhard von Clairvaux suchten ihren Rat. Selbstbewusst ging sie immer wieder auf Reisen, um auf den Marktplätzen öffentlich zu predigen. Hildegard war eine Autorität.
Aber da gab es zur gleichen Zeit noch eine andere Nonne, die – ebenso wie Hildegard – einem Kloster vorstand, gerade mal drei Tagesmärsche stromabwärts von Bingen. In Andernach nämlich hatte Texwindis einen Frauenkonvent begründet, der nach den strengen Regeln des Kirchenvaters Augustinus lebte. Natürlich kannte und respektierte Texwindis ihre berühmte "Kollegin". Aber da gab es Dinge in Hildegards Kloster, die der Andernacherin überhaupt nicht gefielen.
So scheute sich Texwindis auch nicht, einen Brief nach Bingen zu schicken. Und der hatte es in sich. In ihm kritisiert Texwindis den Prunk, mit dem man in Hildegards Kloster den Gottesdienst feiert. Denn dort ziehen die Nonnen in seidenen Gewändern in die Kirche ein, tragen goldverzierte Kränze auf dem Kopf und kostbare Ringe an den Fingern. Für Texwindis ist das ein Skandal! Und es kommt noch schlimmer: Hildegard, die im Gegensatz zu Texwindis aus einer adligen Familie stammt, nimmt nur Standesgenossinnen in ihre Gemeinschaft auf. Dazu schreibt die Vorsteherin aus Andernach:
"Es erscheint uns aber verwunderlich (…), dass Ihr in Eurer Gemeinschaft nur von Geburt aus Ansehnliche und Freie aufnehmt, anderen, die nicht adlig und weniger reich sind, jedoch die Gemeinschaft mit Euch gänzlich verweigert. So stocken wir (…), da wir (…) bedenken, dass der Herr selbst in der Urkirche Fischer, kleine und arme Leute ausgewählt hat."
Texwindis argumentiert also mit der Heiligen Schrift. Wenn dort alle Menschen gleich sind, ja, wenn Jesus sich vor allem um die Armen und Außenseiter gekümmert hat, wie kann Hildegard dann nur adlige Frauen in ihre Gemeinschaft aufnehmen?
Wie reagiert nun Hildegard auf diese scharfe Kritik? In ihrem Antwortschreiben rechtfertigt sie das prunkvolle Outfit der Schwestern. Schließlich seien sie als Jungfrauen allesamt Bräute Christi.
Und was ist mit der exklusiven Aufnahme der Frauen aus dem Adel? Für Hildegard entspricht das der mittelalterlichen Ständeordnung. Und die habe Gott so eingerichtet. Scharf weist sie Texwindis zurecht: Hildegard schreibt: "Welcher Mensch sperrt seine ganze Herde in einen Stall, also Rinder, Esel, Schafe, Böcke, so dass sie sich nicht unterscheiden?"
Man sieht: Auch im christlichen Mittelalter gab es immer wieder heftigen Streit um den Glauben und um seine Umsetzung in die Praxis. Heute, über 800 Jahre später, würden die Christen in dieser Auseinandersetzung sicher auf Seiten der Texwindis stehen. Während Hildegard von Bingen aber 2012 heiliggesprochen wurde, ist ihre Kontrahentin aus Andernach so gut wie vergessen. Schade eigentlich.