"Wir waren im Urlaub in Südfrankreich“, erzählt eine Bekannte. „Es war so unglaublich schön: die Flamingos, die weite Landschaft und vor allem diese wunderbaren Lavendelfelder! Wir sind da stundenlang spazieren gegangen, ich konnte gar nicht genug bekommen von diesem Duft. Ich liebe Lavendel ja schon als Duftsäckchen im Zimmer. Aber so ein ganzes Feld, wohin das Auge blicken kann – sagenhaft. Ich glaube, davon kann ich jetzt lange zehren!"
Meine Bekannte erzählt so hingebungsvoll von dem Lavendel in Südfrankreich, dass ich allmählich den Eindruck gewinne, ich kann ihn auch schon riechen. Klar, Einbildung, könnte man sagen. Ich rieche etwas, was gar nicht da ist. Aber weil ich selber schon in Südfrankreich war und den Duft von Lavendel auch gerne mag, hat da mein Gehirn wohl etwas gespeichert, woran ich mich durch die lebendige Erzählung wieder erinnere: ein Bild hat sich festgesetzt – und ein Duft dazu. Das gibt’s ja auch in anderen Zusammenhängen: Jemand erzählt mir von einem beeindruckenden Konzert mit einer Beethovensinfonie – und in mir beginnen bekannte Passagen zu klingen.
Oder ich erinnere mich an eine Südtiroler Berghütte und mir läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an die feine Mahlzeit denke mit Speck, Käse und Wein. Einbildung? Ja, da hat sich im wahrsten Sinne des Wortes etwas einge-BILD-et in mir.
Der Wiener Arzt und Psychotherapeut Viktor E. Frankl (1905-1997) spricht davon, dass alle Erlebnisse und Erfahrungen meines Lebens wie Erntegaben in einer großen Scheune oder wie Bilder in einer Ausstellung aufgehoben sind. Und von Zeit zu Zeit kann ich in meiner persönlichen Ausstellung schöner Bilder gleichsam spazieren gehen und mich freuen an diesen gespeicherten Eindrücken.
Leider gibt’s so etwas auch bei negativen oder schlimmen Erlebnissen. Bilder von zerstörten Häusern in Kriegszeiten können sich in der Erinnerung geradezu einbrennen. Auch der Geruch nach einem Brand kann sich festsetzen wie der Geruch bei einer Überschwemmung, wenn der Keller vollgelaufen ist. Menschen berichten noch Jahre nach solchen Katastrophen, dass sie die Bilder nicht aus dem Kopf bekommen, immer wieder den beißenden Geruch in der Nase spüren oder bei bestimmten Geräuschen zusammenzucken.
Da hilft es überhaupt nichts zu sagen: "Denk halt nicht dran!" oder "Zeit heilt Wunden!" Das sind eher hilflose Floskeln, die möglicherweise gut gemeint sind, aber nicht unbedingt gut ankommen, eher banal oder gar zynisch.
Man kann sich aber diese menschliche Einbildungskraft auch heilsam zunutze machen. Dass man solche intensiven Eindrücke und Bilder schwer löschen kann, gilt ja auch für die schönen Erinnerungen. So könnte es gelingen, angesichts schlimmer Bilder aus der Vergangenheit, die guten Bilder aus der Erinnerung zusätzlich aufzurufen und sie dazuzulegen. Wenn das Bild eines überschwemmten Hauses auftaucht, dann könnte man dazulegen: Wer hat damals geholfen? Was hat mir gutgetan? Wer hat mich ermutigt oder mir Kraft gegeben? Auch diese wertvollen Hilfen sind nämlich fest verankert in der "Erntescheune meines Lebens".
Viktor Frankl sagt: Im Vergangen-Sein ist nämlich nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen. Daher ist es hilfreich, sich innerlich an einen sicheren, guten Ort zu begeben, an einen Ort der Geborgenheit, wenn sich schlimme Erinnerungen einstellen. Dieser geborgene Ort entsteht durch die wohltuenden Bilder meines Lebens. Ich tue gut daran, mir diesen Ort in Zeiten schöner Erlebnisse gut einzurichten.