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Wunder

Morgenandacht, 17.10.2025

Sabine Lethen, Essen

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Mein Bruder lebt schon seit vielen Jahren in Innsbruck. Ab und zu besuche ich ihn dort und ich hatte große Lust, meine Enkelin einmal mitzunehmen, um ihr die Berge zu zeigen. Kurz nach ihrem 8. Geburtstag haben wir uns dann gemeinsam auf den Weg gemacht. Zunächst verbrachten wir einen ganzen, langen Tag im Zug. Und es war stockfinster, als wir endlich ins Inntal einfuhren.

Erwartungsvoll schaute das Kind aus dem immer langsamer fahrenden Zug: "Innsbruck sieht aus wie Weihnachten", stellte sie fest. Stimmt – wenn ich die locker von unten nach oben verteilten Lichter am Berg sehe und einfach mal nicht daran denke, dass sie zu Laternen, Wohnungen und Autoscheinwerfern gehören, dann sehen sie wirklich aus wie Lichterketten am Weihnachtsbaum.

Am nächsten Morgen mussten wir natürlich sofort nach dem Aufwachen im Hellen schauen, wo wir genau waren, wie die Berge denn nun aussehen und wie groß sie wirklich sind. Meine Enkelin und ich haben lange nur gestanden, geguckt und geschwiegen. Und dann ging die Sonne auf. "Verstehe", kommentierte das Stadtkind an meiner Seite "erst schickt die Sonne das Licht vor und dann kommt sie selbst langsam über den Berg gekrochen." Ja, auch das hatte ich so noch nie so gesehen.

Und es ging so weiter – was haben wir in diesen paar Ferientagen nicht alles entdeckt: Dass auch die kleinsten Steinchen zum Berg gehören und alle zusammen erst den Berg zum Berg machen. Dass manchmal etwas so schön ist, dass man nur noch staunen kann und dabei kaum noch atmet. Wie still die Stille sein kann. Und wie verschieden die Landschaft aussieht, wenn ich ein paar Schritte bergauf oder bergab gehe. Und wie sich die Farben der Berge über den Tag verändern – ein und dieselbe Felswand erscheint mal blass-blau, mal zart-rosa und mal grau. Dass man manchmal scharfe Konturen sieht und ein anderes Mal alles aussieht, wie mit Wasserfarben gemalt.

Es tat unglaublich gut, mal wieder im Kindertempo zu leben und die Welt mit Kinderaugen zu betrachten. Von wegen: Ich zeige ihr die Berge! Sie hat mir die Augen geöffnet!

Käfer, die über ein Geländer krabbelten, waren genauso spannend, wie die Raubvögel, die über unseren Köpfen kreisten. Im Alpenzoo haben wir stundenlang den Ottern beim Auf- und Abtauchen zugeschaut und genauso aufmerksam einer Spinne beim Abseilen. Alles war es wert, wahrgenommen und bestaunt zu werden.

Am Abend, vor dem Einschlafen, habe ich meine Enkelin dann gefragt: "Was war das schönste von allem, was wir heute erlebt haben?" Die Aufzählung wurde lang und länger: Die Wolken am Morgen, die Busfahrt ins Tal, der Weg am See, das Eis in der Stadt, der Duft im Wald, die Ziegen auf der Weide – so viel Kleines und Großes hatten wir erlebt und alles war wertvoll.

Ohne meine Enkelin wäre die Innsbruck-Zeit nicht so eindrucksvoll gewesen. Und sie hat mich durch Ihr So-sein etwas gelehrt. Seit dieser Reise mit ihr in den Alpen versuche ich immer mal wieder – besonders nach ereignisreichen Tagen – mir selbst am Abend die Frage zu stellen: "Was war das Schönste von allem, was ich heute erlebt habe?"

Es ist erstaunlich, was dann so alles noch einmal vor meinem geistigen Auge vorbeizieht und mich dankbar werden lässt. Wie schön die Welt doch ist, wenn ich mir bloß Zeit nehme, neugierig und mit offenen Augen hinzuschauen – und die Wunder entdecke – selbst im Altbekannten und Vertrauten.

Über die Autorin Sabine Lethen

Sabine Lethen, Jahrgang 1958, ist verheiratet, Mutter von vier erwachsenen Töchtern und Großmutter. Im Laufe des Lebens absolvierte sie eine Ausbildung zur Erzieherin, das Studium der Sozial- sowie der Religionspädagogik. Seit 2003 steht sie als Seelsorgerin im Dienst des Bistums Essen, seit 2017 leitet sie dort eine Gemeinde innerhalb einer Essener Pfarrei.

Kontakt: sabine.lethen@bistum-essen.de