Wieder einmal stehe ich auf dem Friedhof. Nach langer Parkinsonerkrankung ist meine Tante verstorben. Sie war zuletzt ohne Kraft, nicht mehr in der Lage, mit uns zu sprechen; allein ein Lächeln war ihr zu noch zu entlocken, wenn wir mit ihr redeten. Das war eine schöne Erfahrung in allem, was ihr nicht mehr möglich war. Dann hat sie das Zeitliche gesegnet.
So wächst nun die Galerie der Toten, mit denen ich lebe, weiter an. Das Fehlen vieler Menschen, mit denen ich mein Leben geteilt habe, ist ein immer wieder im Alltag gespürter Verlust. Auch im Zeitabstand vieler Jahre bleibt eine Präsenz der Toten, bleibt ihre Gegenwart, die sich entzündet an aufsteigenden Bildern geteilten Lebens.
Wo sind unsere Toten jetzt? So fragen Kinder. Die Antwort darauf geben wir Erwachsene oft nur in gestammelten Worten. Im Nachdenken über den Tod beschäftigt mich diese Frage immer wieder: Hat das Reich der Toten seinen Ort ausschließlich im Gedächtnis der Überlebenden? Ist unser Gedenken der einzig mögliche Trost angesichts der stummen Endgültigkeit des Todes? Vielleicht ist die Welt, die wir kennen, eine, über die hinaus nichts mehr ist. Dann wäre der Himmel verriegelt.
Wenn ich das Sterben so hautnah erlebe, bin ich aufgewühlt, hilflos und traurig, obwohl des nicht mein Sterben ist. Jeder Sterbende aber überbringt uns die Botschaft: "Was ich kann, das wirst du auch können: Sterben, das Leben loslassen."
Das Leben loslassen – diese Aufforderung passt so wenig zu meinem Leben, das bestimmt ist von Geschäftigkeit, Geschwindigkeit und Intensität. Ich bin getrieben von der Sorge, etwas zu versäumen, keine Lebensmöglichkeit will ich ungenutzt lassen. So wird das Leben tatsächlich zur "letzten Gelegenheit"; da geht es darum, intensiv und in vollen Zügen zu leben und alles mitzunehmen. Wenn ich diesem Gesetz folge, werde ich zum "Macher" meines Schicksals.
Im Mittelalter war das anders. Durch Krieg und Pest war der "Knochenmann" – wie der Tod genannt wurde – stets präsent. Die Sorge vor dem plötzlichen Tod und damit verbunden vor Hölle und Fegefeuer schuf eine echte Seelenangst. Wehe dem, der ohne die Sterbesakramente der Kirche als Sünder vor den Weltenrichter trat. Da galt es, gut vorbereitet zu sein.
So entstand die "Ars moriendi", die Kunst des Sterbens. Es ging um das Seelenheil und auch um den Trost im Sterben. Eine Vorbereitung auf das Sterben schon mitten im Leben. Wie anders ist dagegen heute der Umgang mit dem Tod: Oft wird der Kontakt mit dem Tod aus dem eigenen Leben ausgeklammert. Und wenn der Tod sich schon nicht abschaffen lässt, dann soll er zu meinen Bedingungen eintreten. Will heißen: Bloß kein langes Siechtum, am besten friedlich einschlafen, ohne Schmerzen. Ein plötzlicher, überraschender Tod, ohne etwas zu spüren, das ist ein sehr verständlicher Sterbewunsch.
Indem ich über all das nachdenke, lerne ich besser zu verstehen, was für mein Leben wichtig ist. Das Wissen um meine Sterblichkeit lehrt mich, "endlich" zu leben im Hier und Jetzt: mit Dankbarkeit und Freude für das Leben, das mir geschenkt ist.
Als Christ erschließt sich für mich eine radikal andere Sicht auf unsere Sterblichkeit und den Tod erst mit einem Sprung in ein anderes Bild; dieses Bild zeichnet der Prophet Jesaja im Alten Testament der Bibel, der Gott zum Menschen sprechen lässt: "Ich habe dich in meine Hand eingeschrieben, du bist mein." In diesem Glauben kann ich beten: "Herr, mitten im Leben treffen wir auf den Tod. Gib uns die Hoffnung, das Vertrauen und die Zuversicht, dass wir auch mitten im Tod auf das Leben treffen." (Gotteslob 17.2)