Wir leben in einem weltanschaulich offenen Gemeinwesen, das als eine Grundlage die Trennung von Religion und Staat hat und den säkularen Staat als Fortschritt begreift. Die religiöse Situation in Deutschland ist einerseits von einem Rückgang der Zahl der Angehörigen der christlichen Kirchen, andererseits von einer Vielfalt anderer Religionen und von der zunehmenden Nichtzugehörigkeit zu einer Religion geprägt. Diese Phänomene werden von einer Individualisierung der Religiosität begleitet. Die Kirchenbindungsstudie von evangelischer und katholischer Kirche macht deutlich, dass Religiosität weiter zurückgehen könnte. Das führt sowohl die Kirchen und Religionsgemeinschaften als auch das Gemeinwesen zu Fragen, die auch das Verhältnis von Staat und Kirche betreffen.
Der Beitrag der Religion zu den Grundlagen von Staat und Gesellschaft macht die Religionsausübung zu mehr als einer Privatsache, nämlich zu einer öffentlichen Angelegenheit. Die katholische Kirche tritt nicht nur im Eigeninteresse für Religionsfreiheit ein, sondern fordert sie auch für Gläubige anderer Religionen und für Nichtgläubige. Pluralität ist ein Fortschritt. Gerade an Pfingsten feiern die Christen ja eine Vielfalt, die die Einheit belebt.
Das Grundgesetz, das seit bald 75 Jahren besteht, hält in Artikel 4 fest: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich." Es formuliert keine strikte Trennung, aber gewährleistet eine ungestörte Religionsausübung. Die Freiheitsrechte werden als Grundrechte dem Menschsein zugeordnet und nehmen den Staat in die Pflicht. Das hängt mit der Grundidee zusammen, dass Freiheit nicht nur Freiheit von etwas bedeutet, sondern auch Freiheit zu etwas und sie konstitutiv in all ihren Ausprägungen zum Menschsein gehört. Deshalb gibt es auch keine Hierarchie der individuellen Freiheitsrechte im Grundgesetz.
Die Frage ist, ob die moderne Gesellschaft überhaupt Religion braucht und wozu. Oder anders formuliert: Was fehlt, wenn Gott fehlt? Je nachdem, welche Bedeutung Religion im eigenen und im gemeinschaftlichen Leben einnimmt, lässt sich die Frage leichter oder schwerer beantworten. Ich bin überzeugt, dass Religion entscheidend zum gesellschaftlichen Leben beiträgt. Und: Religion und Kirche brauchen auch die Gesellschaft! Kirche existiert nicht neben der Gesellschaft, sondern mitten in ihr, sie ist keine Parallelgesellschaft und doch geht sie nicht einfach in der Gesellschaft und im Staat auf. Das müssen sowohl Kirche als auch Staat immer im Blick haben.
Religion ist kein Nischen-Phänomen, keine Privatangelegenheit. Das wird auch staatlicherseits anerkannt, etwa durch den Religionsunterricht. Auch der Sonntag und die religiösen Feiertage sind Ausdruck der Glaubens- und Religionsfreiheit. Sie sind ja nicht nur für Angehörige der christlichen Kirchen da, sie sind ein Zeichen für alle.
Im Schutz des Sonntags und der religiösen Feiertage kann sich ausdrücken, dass Religiosität zum Menschsein dazu gehört und für alle eine Botschaft hat. Unabhängig von einer bestimmten Religionszugehörigkeit öffnet Religion den Menschen über sich selbst hinaus, kann Hoffnung stiften und Verantwortung stärken. Kirche, die auf der Höhe der Zeit den öffentlichen Diskurs pflegt, sich hinterfragt und weiterentwickelt, bietet dem Gemeinwesen darin auch die kritische Unterscheidung von Macht an und stärkt die Idee der Freiheit. Man könnte es auch ganz kurz so formulieren: Wir sind nicht Gott! Die Welt ist größer als das, was wir sehen.
Ich wünsche Ihnen ein wunderschönes Pfingstfest!