Ich wohne in ihrer Nähe und fahre auch oft an ihr vorbei. Es ist ein toller Anblick, sie schon von Weitem zu sehen, kunstvoll auf der Anhöhe liegend: Ich meine die Walhalla in Donaustauf, in der Nähe von Regensburg. König Ludwig I. hatte diese Gedenkstätte, die einem antiken Tempel ähnelt, erbauen lassen als Erinnerung an große Persönlichkeiten, denen das Land viel zu verdanken hat. Hintergrund war damals der Siegeszug der Armee Napoleons, den so viele Menschen als schmachvoll erlebt hatten.
In Ludwig, damals noch Kronprinz, wuchs ab 1807 die Idee für diesen prachtvollen Gedächtnisort, der an vergangene, ruhmreiche Zeiten erinnern sollte, um der erfahrenen Erniedrigung etwas entgegen zu stellen. Für diesen Ort wurde der Name Walhalla gewählt. Walhalla gilt in der nordischen Mythologie als der Ruheort gefallener Kämpfer. 1830 erfolgte die Grundsteinlegung, zwölf Jahre später, am 18. Oktober 1842, konnte die Walhalla feierlich eröffnet werden. Die entscheidende Inspiration für die Umsetzung des Baus war dabei der berühmte Parthenon-Tempel auf der Athener Akropolis aus dem 5. Jahrhundert vor Christus.
Man kann freilich geteilter Meinung über so ein Bauwerk sein. Natürlich gab es schon zur Zeit König Ludwigs kritische Stimmen: das Bauwerk sei viel zu teuer, es passe nicht in unseren Kulturraum und sei vor allen Dingen auch zu national angehaucht. Solche Einwände sind nicht von der Hand zu weisen. Und dennoch empfinde ich seit meiner Schulzeit eine besondere Nähe zu diesem Bauwerk, ich bin ja sozusagen damit groß geworden. Und mich hat der Anblick der Walhalla darum zu einem Gedankenspiel geführt. Welche Persönlichkeiten aus der Vergangenheit meines eigenen Lebens würde ich denn in der Walhalla ehren? Wem würde ich dort ein Denkmal bauen wollen?
Meinen Eltern zum Beispiel, weil sie mich gut ins Leben gebracht und mit mir die ersten Grunderfahrungen geteilt haben wie Schmerz und Freude, Verzagtheit und Hoffnung, frohe Erwartung und enttäuschte Freundschaften. Aber auch einigen meiner Lehrerinnen und Lehrer, weil sie vieles Wertvolle aus mir hervorgelockt, manche überzogene Erwartung auch zertrümmert haben.
Ganz sicher meinem Klavierlehrer, der meine Liebe zur Musik noch viel größer gemacht und mir einen kostbaren Schatz fürs Leben geschenkt hat. Guten Freunden, bei denen ich in jeder Situation willkommen bin, egal wie es mir gerade geht und welche Sorge ich gerade mit mir herumtrage. Ich würde aber auch Menschen danken, die sich mir gegenüber kritisch und zurückhaltend verhalten, weil sie mich vor allzu dreisten Höhenflügen bewahren.
Was und wie ich heute bin, verdanke ich ganz schön vielen Menschen. Natürlich bin ich ein unverwechselbarer Mensch, den es so nicht noch einmal gibt. Und ich habe im Lauf meines Lebens auch oft gehört: "Versuche nicht, jemanden nachzuahmen. Versuche vielmehr, DU selbst zu werden." Das ist gar nicht so einfach und dazu brauche ich dennoch die Hilfe anderer Menschen, eine gute Begleitung, auch so manchen Widerstand.
Es gibt im Alten Testament, der Zeit des Mose zugeordnet, einen Lobgesang auf die weise Führung der Weltgeschichte durch Gott, in dem die Erfahrung der Vorfahren besonders wertgeschätzt wird. Da heißt es:
"Denk an die Tage der Vergangenheit, / lerne aus den Jahren der Geschichte! / Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen, / frag die Alten, sie werden es dir sagen.“ (Dtn 32,7)"
Ich muss ja keine eigene Walhalla bauen – und kann mich dennoch von Zeit zu Zeit an Menschen erinnern und vor ihnen meinen Hut ziehen, ohne die ich nicht ich wäre!