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Stiller Tag am Meer

Morgenandacht, 19.02.2024

Peter-Felix Ruelius, Schlangenbad

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Vergangene Woche endete in Frankfurt die großartige Retrospektive zum Werk von Lyonel Feininger. In den Tagen nach Weihnachten war der Besuch dort ein Highlight. Na ja, nicht nur für mich. Wie das bei großen Ausstellungen an solchen Tagen eben ist: es ist ganz schön unruhig. Gruppen sind da, die eine oder andere Führung – mit einer gewissen Lautstärke, Familien nutzen die Ferientage für einen Besuch der Ausstellung – also: ein ziemliches Gewusel. So ganz einlassen auf die Kunst kann ich mich erstmal nicht. Ach, hätte man so eine Ausstellung doch einmal ganz für sich, ganz in Ruhe.

Und dann auch noch das: Vor einem Bild steht ein Mann. Er verdeckt das Bild zwar nicht, aber er steht doch so dicht davor, dass es etwas stört. Dem Bild gegenüber ist eine Bank. Ich setze mich und warte, warte auf eine freie Perspektive. Und warte lange. Was soll ich sagen? Der ältere Herr steht und steht. Studiert, macht ein paar Aufnahmen mit seinem Handy und schaut. Hebt den Kopf, schaut von der Seite, folgt den Linien, den Flächen, dem Farbverlauf. Kneift die Augen zusammen. Und steht und steht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals in einer Ausstellung jemanden gesehen hätte, der ein Bild dermaßen akribisch betrachtet. Was um alles in der Welt sucht er da? Es ist, als ob er jeden einzelnen Pinselstrich erforschen will.

Und bei mir passiert nun etwas Merkwürdiges. Meine Ungeduld wird zur Neugier. Meine Unruhe, die ich in die Ausstellung mitgebracht habe, wird zur Ruhe. Ich selbst nehme mir Zeit, viel Zeit, um jetzt nicht nur das Bild, sondern auch den geduldigen Forscher zu betrachten. Und das hat etwas Meditatives. Der Trubel ringsum wird auf einmal nebensächlich.

Und das Bild erschließt sich nun auf eine ganz eigene Weise. Indem ich den beobachte, der das Bild betrachtet, macht mich das Bild selbst neugierig. Ich meine nun, es müsste besonders sehenswert sein. Und trete dann auch noch einmal heran und vertiefe mich auch in das Bild. Transparente Farbflächen liegen übereinander, ein Blau in unzähligen Nuancierungen von sehr dunkel bis leuchtend bestimmt die Mitte.

Nur als geometrische Formen sind die Silhouetten zweier Segelboote gut zu erkennen, das linke mit weißem Segel, das rechte mit einem rotem. Weiter am Horizont erkenne ich noch ein drittes Segelboot, nur als feine helle Spitze ist es da. Wie ein abendlicher Sonnenschein liegen auf der rechten Seite des Bildes helle, leuchtende Farbflächen in einem sanften gelben Ton. Die Wasseroberfläche scheint wie gläsern, die Spiegelungen sind ruhig und durch keine Welle gestört. Und es scheint, als ginge das Bild noch tief in den Hintergrund hinein, in eine unglaubliche Weite, die ich ahne und die mich berührt.

Der Titel des Bildes lautet: "Stiller Tag am Meer."

Und ich werde nachdenklich und ziemlich froh über diese ganze Situation. Ein stiller Tag am Meer: wie soll man so ein Bild denn anders betrachten als in geduldiger Ruhe; mit Zeit und Ausdauer. Und mehr erleben als betrachten. Sich hinstellen oder hinsetzen und schauen. Nur schauen. Nicht, um viel zu entdecken, nicht, um viel in den eigenen inneren Bildervorrat zu laden, sondern einfach eine Wirkung zu erleben. Eben die, die ein stiller Tag am Meer haben kann.

Irgendwann bin ich weiter gegangen, der unermüdliche Betrachter stand noch davor. Und so ganz nebenbei, unbeabsichtigt, habe ich gelernt: Manchmal ist es ganz gut, wenn man sich dem Blick eines anderen anvertraut, um etwas zu entdecken. Das braucht keine Worte. Die Aufmerksamkeit eines Menschen, seine Konzentration und Wertschätzung haben mich ganz einfach mitgenommen und mir eine wunderbare Entdeckung und Ruhe geschenkt.

Über den Autor Dr. Peter-Felix Ruelius

Dr. Peter-Felix Ruelius, geboren 1964, ist Theologe und leitet gemeinsam mit einer Kollegin den Bereich Christliche Unternehmenskultur / Ethik bei den Franziskanerbrüdern vom Hl. Kreuz. Als Trainer, Supervisor und Coach begleitet er Menschen in ihren beruflichen Herausforderungen und Entwicklungen. Peter-Felix Ruelius war lange Zeit als Religionslehrer in Fulda tätig und arbeitete mehrere Jahre in der Lehrerfortbildung.