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Die Goldene Regel

Morgenandacht, 19.03.2025

Sebastian Fiebig, Hamburg

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Es ist Berufsverkehr in Hamburg, die Straßen sind voll. Ein LKW schafft es nicht mehr ganz über die Kreuzung, weil der Verkehr sich vor ihm staut. Er steht noch halb auf dem markierten Weg für die Fußgänger, als diese Grün bekommen. Ein Mann überquert die Straße. Seine anklagend ausgebreiteten Arme lassen erkennen, dass er den Umweg von einigen Metern nicht gerne macht. Er zückt sein Smartphone und fotografiert das Kennzeichen des Hindernis-LKWs von hinten. Nun springt die Fußgängerampel auf Rot, neue Autos fahren langsam bei Grün auf die Kreuzung und hupen laut, denn nun steht der Mann immer noch auf der Fahrbahn. Auch diese Autos werden von ihm fotografiert, dann zieht er weiter.

Was war das, was ich da beobachtet habe? Ein paar kleine Fehler, niemand ist zu Schaden gekommen. Aber wahrscheinlich haben jetzt alle eine Wut im Bauch.

Schade, dass keiner der Beteiligten es schafft, mit dem vermeintlichen oder tatsächlichen Fehlverhalten anderer gelassener umzugehen und mal Fünfe gerade sein zu lassen. Schade, dass Autofahrer am Steuer schnell vergessen, dass sie auch mal Fußgänger waren und wieder sein werden. Und umgekehrt. Schade, dass es so schwer ist, die Perspektive zu wechseln und sich in die anderen hineinzuversetzen.

In vielen Religionen gibt es eine ethische Regel, die eine Hilfe in solchen Situationen sein kann, die Goldene Regel. Jesus hat sie so formuliert: "Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!"[1]

Als gereimtes Sprichwort heißt sie dann umgekehrt: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu." Die Regel wird nicht alle Konflikte lösen, aber sie kann eine andere Haltung darin fördern: Der Blick und die Lage der anderen wird zum Maßstab für gutes und faires Handeln. Der Fußgänger fragt sich: Möchte ich als LKW-Fahrer eine Anzeige bekommen, wenn ich es nicht ganz über die Kreuzung schaffe? Die Autofahrer fragen sich: Möchte ich mich als Fußgänger zwischen den Autos durchschlängeln müssen und angehupt werden? Wer das empathisch und ehrlich mit "Nein" beantwortet, wird anders reagieren. Gelassener, barmherziger, großzügiger, friedvoller. Das wäre ein Gewinn.

Vielleicht kann jemand nicht antworten ohne ein Aber: "Aber in § 11 Absatz 1 der StVO steht doch …" – Ja, Kreuzung freihalten, das steht da, und Regeln im Straßenverkehr sind sehr sinnvoll, als Schutz für den einzelnen und als Ordnung für das Miteinander. Aber ich weiß doch gar nicht, wie dieser konkrete Fall für die Beteiligten rechtlich ausgehen würde. Und selbst wenn nur ein einzelner von ihnen im Recht wäre und alle anderen im Unrecht: Vielleicht ist es gut, mal hin und wieder auf sein Recht zu verzichten. Es um des anderen willen einfach mal gut sein lassen.

Jesus hat dazu noch einen Anstoß gegeben, als er sagte: "… nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet auch ihr gemessen werden." [2] Mit anderen Worten: Wer kleinlich ist, dem wird man auch Kleinigkeiten vorhalten. Wer aber großzügig handelt, der wird etwas gewinnen. Für sich, aber auch für die anderen.


[1] Mt 7,12

[2] Mt 7,1

Über den Autor Sebastian Fiebig

Sebastian Fiebig wuchs in Hamburg auf und studierte Theologie in Münster. Heute arbeitet er als Pastoralreferent im Erzbistum Hamburg. Sein Weg führte ihn in die Pfarrpastoral und die Seemannsseelsorge im Hamburger Hafen. Beauftragt wurde er auch mit dem Gedächtnis an die Lübecker Märtyrer, die in der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand leisteten und hingerichtet wurden. Sebastian Fiebig wurde in die Ökumene- und Liturgiekommission des Erzbistums berufen. Seit vielen Jahren schreibt er Radiobeiträge für die Kirchensendungen des NDR.

Kontakt: sebastian.fiebig@erzbistum-hamburg.org