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Aufeinander hören

Morgenandacht 19.04.2023

Pfarrer Dr. Christoph Seidl, Regensburg

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Sie ist die erste Frau an der Spitze eines großen Berliner Orchesters. Die Dirigentin Lydia Tár. Sie hat es so weit nach oben geschafft durch harte Arbeit, Disziplin, Verzicht, aber auch durch Kalkül und Ellenbogen. Diese fiktive Geschichte ist vor ein paar Wochen als Kinofilm gestartet unter dem Titel "Tár". Ich habe mir den Film des US-amerikanischen Regisseurs TODD FIELD, bereits angesehen und bin nachhaltig davon beeindruckt.

Lydia Tár ist verheiratet mit ihrer ersten Geigerin Sharon, mit der sie Tochter Petra erzieht. Tár ist gerade dabei, die fünfte Sinfonie von Mahler mit ihrem Orchester einzuspielen. Alles wirkt zunächst meisterhaft und makellos. Doch das perfekte Leben bekommt Risse: Eine ehemalige Assistentin von Tár nimmt sich das Leben und erhebt vorher noch schwere Anschuldigungen gegen die Dirigentin. Zudem geht ein Video viral, in dem Lydia Tár einen Studenten verbal fertig macht. Doch nicht nur ihre musikalische Karriere wirkt zunehmend angeschlagen.

Die ambitionierte Dirigentin beginnt eine Beziehung mit einer jungen Cellistin, die Társ Ehefrau nicht verborgen bleibt, sie wirft Tár deshalb aus der gemeinsamen Wohnung. Aufgrund der Vorwürfe des Machtmissbrauchs lässt auch ihr Berliner Orchester sie fallen. Tár zieht sich schließlich aus der Öffentlichkeit zurück, zuletzt sieht man sie als Dirigentin von Videospielmusik auf den Philippinen.

Der Film hat mich stark bewegt. Einerseits braucht man schon Ellenbogen, um sich ganz oben behaupten zu können. Andererseits würde man sich von einer solchen Person auch wünschen, dass sich hinter d em musikalischen Genie ein Mensch verbirgt, den man nicht nur respektieren, sondern auch mögen könnte. Aber hinter den Kulissen schaut es oft anders aus, nicht nur in der Musikwelt. Besonders berührt hat mich der Film, weil ich am selben Tag eine Fortbildung über geistlichen Machtmissbrauch besucht habe und vieles, was ich tagsüber gehört hatte, im Film entsprechend wiederfand. Überall dort, wo es strenge Hierarchien gibt, besteht die Gefahr, dass Leitung ins Gegenteil umschlägt.

In einem Buch mit dem Titel "Wie man führt, ohne zu dominieren", habe ich gelesen, wie es anders gehen könnte. Da heißt es zum Beispiel: "Fördern Sie gezielt die Teamentwicklung!" Das bedeutet: Nicht nur die Leitung weiß oder kann etwas, sondern auch alle anderen, sei es musikalisch oder auch spirituell. Es ist eine Kunst, aufeinander zu hören und voneinander zu lernen – in aller Freiheit!

Ein weiterer Grundsatz heißt: "Kümmern Sie sich um ein System, für das Sie vorübergehend Verantwortung tragen!" Es gab ein "vor mir" und es wird ein "nach mir" geben. Natürlich müssen Entscheidungen jetzt getroffen werden, aber der Gedanke der Vorläufigkeit bewahrt mich vor Selbstherrlichkeit.

Interessanterweise stehen solche guten Ratschläge für Führungskräfte schon in der Bibel, z.B. im 10. Kapitel des Markusevangeliums. Da sagt Jesus: "Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein." (Mk 10,42-44)

Sklave aller zu sein, klingt zunächst nicht erstrebenswert. Aber wer Leitung nicht als persönliches Karriereziel, sondern als Dienst an der Gemeinschaft verstehen kann, der hat sicher etwas Wesentliches begriffen – egal ob in der Musikwelt, in der Politik, in der Kirche oder im alltäglichen Leben.

Über den Autor Christoph Seidl

Pfarrer Christoph Seidl wurde 1967 geboren. Er stammt aus Regensburg und ist seit 1992 Priester im Bistum Regensburg. Nach der Kaplanszeit in Straubing arbeitete er in der Priesterausbildung mit und war Studentenpfarrer in Regensburg. Pfarrer Seidl ist als Seelsorger für Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen im Bistum Regensburg tätig und als Gemeindeseelsorger in Regensburg – Harting.

Kontakt: seidl@seelsorge-pflege.de