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Einzigartig

Morgenandacht, 19.04.2024

Markus Potthoff, Essen

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Die bedenklich alte Straßenbahn ächzt über das Gleis. Es bereits kurz vor Mittag an einem grauen, regnerischen Tag; der Frühling lässt sich nicht blicken. Längst ist die Bahn nicht so voll wie zu Zeiten, an denen die Schulkinder sich in Scharen auf die Sitze drängen. Heute herrscht mal eine erstaunliche Ruhe. Ich schaue mich um. Die Szenerie erinnert mich an den Film "Der Himmel über Berlin". Wim Wenders hat ihn gedreht. Zwei Engel wandern durch die Stadt und haben eine besondere Fähigkeit: Sie beobachten die Menschen und lauschen ihren Gedanken. Das möchte ich manchmal auch können, wenn ich die Menschen um mich herum betrachte.

Was mag in den Köpfen meiner Mitfahrenden wohl vorgehen? Wer seid ihr? Die Antworten, die ich erfinde, sind Geschichten: Da ist eine Frau, die grad noch mit Mühe den Kinderwagen in die Bahn gehoben hat, sie rettet sich an die Haltegriffe, als die Bahn anfährt. Müde sieht sie aus, vielleicht ist sie gerade mit der Situation überfordert, zerfressen von Sorge über die Zukunft. Ein Mann hockt auf einem erhöhten Platz, die Hände umklammern den Aktenkoffer, der als Ablage für den Laptop dient, auf dem Bildschirm sind Excel-Tabellen zu sehen. Vielleicht muss er beim gleich beginnenden Meeting die neuesten Zahlen präsentieren. Der Blick einer jungen Frau springt vom Handy auf zu einer Werbetafel für den Urlaub in Neuseeland, träumt sie von einem Abenteuer?

Menschen – verstrickt in Geschichten; jeder in seine. Am Hauptbahnhof in Essen wird es dann hektischer, die Straßen- und U-Bahnen spucken an diesem Knotenpunkt viele Menschen auf die Bahnsteige, jeder geht jetzt seinen Weg. Stumme Gestalten und schnatternde Gruppen hasten aneinander vorbei. Für den Beobachter ein ungeordnetes Gewimmel auf sich kreuzenden Wegen. Menschen – ein jeder einzig. Der Hässliche und der Schöne, der Einfältige und der Kluge, der Alte und der Junge, der Gesunde und der Kranke. Ein jeder verstrickt in seine Geschichte, an der er gerade schreibt oder die mit ihm geschrieben wird. Jeder hat sein eigenes Können, seinen eigenen Ausdruck, entsprungen aus seinem Geist, seinem Denken und Fühlen. Ein jeder mit seinen Fragen und Nöten und seinem Glück. Die Einzigartigkeit eines jeden Menschen – das ist für mich eine faszinierende Erkenntnis. Wir sind keine Serien­produkte!

Ein Satz aus der Bibel fällt mir dazu ein: "Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen." So spricht Gott den Menschen an. Gott hat jeden einzelnen Menschen im Blick, spricht ihn an, "beruft" ihn.

Der englische Kardinal John Henry Newmann hat diesen Gedanken einmal so entfaltet: "Ich bin berufen, etwas zu tun oder zu sein, wofür kein anderer berufen ist. Ich habe einen Platz ... auf Gottes Erde, den kein anderer hat. Ob ich reich bin oder arm, verachtet oder geehrt bei den Menschen, Gott kennt mich und er ruft mich mit meinem Namen."

Eine Entlastung ist das: Ich muss mich nicht selbst darstellen, nicht in großen Reden, nicht durch aufsehenerregende Taten. Ich muss auch nicht ein anderer sein als der, der ich bin. Gott spricht mir zu: Sei unbesorgt um dein Image! Für mich bist und bleibst Du unverwechselbar. Und: Was für mich gilt, gilt für jeden Anderen auch.

Was passierte, wenn wir es schafften, in jedem Menschen, und sei er uns nah oder fremd, jemandem zu sehen, dem Gottes Sorge gilt? "Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen." Mir hilft dieser Satz, zu mir selbst zu stehen und das eigene Leben als Herausforderung zu begreifen. Und er vermittelt mir tiefe Achtung gegenüber jedem anderen Menschen und seiner Geschichte – egal wie sie ist.

Über den Autor Markus Potthoff

Markus Potthoff wurde 1963 in Bochum geboren. Nach dem Studium der Theologie und Philosophie ist er seit 1994 im Dienst des Bistums Essen tätig. Zurzeit leitet er die Hauptabteilung "Pastoral und Bildung" im Bischöflichen Generalvikariat in Essen.

Kontakt: markus.potthoff@bistum-essen.de