Sie ruht in sich selbst. Eigentlich erstaunlich, denn das Kind, das sie mit beiden Händen hält, scheint unruhig zu sein. Jedenfalls deutet der feste Griff der Mutter um den Oberkörper des Babys ebenso darauf hin, wie das Gesicht des kleinen Jungen, der so aussieht, als wüsste er noch nicht, ob er lachen oder weinen soll. Fast zärtlich wirkt in diesem Zusammenhang der rechte Zeigefinger der Frau: Er ist liebevoll auf die Wange des Kindes gelegt.
Mutter und Kind sind die zentralen Figuren des neugeschaffenen Mittelteils des Naumburger Altares. Michael Triegel, der Künstler aus Leipzig, hat ihn vor etwa fünf Jahren geschaffen. Die bereits 1541 bei einem reformatorischen Bildersturm zerstörte ursprüngliche Mitteltafel muss eine Szene gezeigt haben, in deren Mittelpunkt die Gottesmutter Maria zu sehen war. Von daher erschließt sich sofort, wer dem Betrachter hier entgegenblickt: Auch diese gelassene junge Mutter mit Kind soll Maria aus Nazareth darstellen – die Mutter Gottes. Darauf weist der blaue Umhang hin, der ihr wie ein Schleier vom Kopf über die Schulter bis zum Boden fällt. Blau ist in der christlichen Kunst die Marienfarbe. Dazu kommt ein rotes Kleid, das königliche Würde symbolisiert und ein weißes Tuch, das sie als etwas Besonderes auszeichnet. Auch das Kind, das dem Betrachter fast entgegen gehalten wird, als solle er es jeden Moment übernehmen, ist ein Indiz dafür, dass das Jesus sein soll, der Sohn Gottes, den sie geboren hat.
Die Geste ist wie eine Aufforderung gemeint. Maria sagt dem Betrachter: "Nimm meinen Sohn Jesus von mir entgegen! Halte du ihn! Trage ihn in die Welt!" Es ist eine Aufforderung, der viele Menschen ihr Leben gewidmet haben. Wie der Apostel Paulus. Er ist einer von den großen Verkündern Jesus Christi. Von ihm heißt es in der Lesung, die im täglichen Gottesdienst heute vorgetragen wird, dass er im griechischen Korinth nachts eine Vision hat. Er hört diesen Jesus zu ihm sprechen. Es sind Worte der Ermutigung: "Fürchte dich nicht! Rede nur, schweige nicht! Denn ich bin mit dir, niemand wird dir etwas antun. Viel Volk nämlich gehört mir in dieser Stadt." (Apostelgeschichte 18,9 ff).
Das muss für ihn ein starker Anschub gewesen sein, noch rastloser und begeisterter Menschen von diesem Jesus zu erzählen. Der war ihm vor Jahren auf dem Weg nach Damaskus erschienen, wo er als eifriger Pharisäer die Anhänger Jesu aufspüren und verhaften wollte. Die Erscheinung, die er unterwegs hatte, hatte ihn völlig verwandelt. Aus einem hasserfüllten Verfolger wurde er zum großen Verkünder der Menschwerdung des Todes und der Auferstehung Jesus Christi.
In der Gestalt eines orthodoxen Juden mit Hut und Bart und einem aufgeschlagenen Buch in den Händen, hat der Künstler Michael Triegel diesen Paulus am Rand seiner Altartafel platziert. Er schaut mit Staunen auf Mutter und Kind als schiene er schon zu ahnen, dass er den Retter sieht. Was in dem aufgeschlagenen Buch verheißen wurde, erfüllt sich in diesem Kind – so die Botschaft dieser Gestalt.
Der Retter, von dem die Schriften des ersten Bundes künden, ist Jesus aus Nazareth. Er hat das Leben der Menschen geteilt – in aller Konsequenz, bis hin zum Tod. Aber er hat den Tod überwunden, ist auferstanden – und macht das Leben weit. Das trägt der völlig verwandelte Verfolger Saulus nun als Apostel Paulus in alle Welt.
Bis heute ist das die entscheidende Botschaft, die Christen in die Welt und zu den Menschen bringen wollen. Den Zuhörern dieser Botschaft und allen Menschen guten Willens gilt darum die Zusage Gottes an Paulus in gleicher Weise: "Fürchte dich nicht! Rede nur, schweige nicht! Denn ich bin mit dir."