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Wunder

Morgenandacht, 19.08.2024

Sebastian Fiebig, Hamburg

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Ist das denn wahr? Oder ist das nur eine Geschichte, die wir da in der Bibel lesen? Davon gibt es ja viele, bei denen man sich unweigerlich fragt, ob sich das wirklich so zugetragen hat. So wie diese: Das Volk Israel hat in der Wüste nichts mehr zu essen und überlebt, weil Brot vom Himmel fällt [1]. Ist das denn wahr?

Die Israeliten bringen die Stadtmauer von Jericho zum Einsturz, nur durch ein paar Trompeten und das laute Geschrei des Volkes [2]. Ist das denn wahr? Jesus heilt einen Gelähmten in Jerusalem allein durch sein Wort, der Mann kann nach Jahrzehnten aufstehen und endlich wieder gehen [3]. Ist das denn alles wahr?

Wenn wir als Theologie-Studenten unseren Professor für Altes Testament gefragt haben, ob diese oder jene Bibelstelle nun wahr ist, also wirklich genau so passiert, dann hat Erich Zenger manchmal gesagt: "Es ist keine einmalige Geschichte, sondern eine allmalige." Also eine, die immer wieder passiert, zu allen Zeiten und überall. Wer die Wundergeschichten der Bibel wirklich verstehen will, dem hilft ein Schwarz-Weiß-Denken nicht weiter, dem hilft das Sortieren zwischen "historischem Ereignis" einerseits und "erfundener Legende" andererseits nicht weiter. Der sieht, dass es Wahrheiten gibt, die über den bloßen Nachrichten-Charakter weit hinausgehen. So weit, dass sie die Menschen auch zwei- oder dreitausend Jahre später noch betreffen.

Was ist mit dem Brot, das vom Himmel fällt? Die Berliner haben das erlebt, als 1948 alle Wege, die in ihre Stadt führten, versperrt waren. Über 2 Mio. Menschen wurden über die Berliner Luftbrücke versorgt. Brot fällt vom Himmel, auch Milch, Kohle und Medikamente. Eine Meisterleistung der Logistik und des Durchhaltewillens. Ein Wunder.

Was ist mit der Mauer, die einstürzt? Die Deutschen haben es erlebt am 9. November 1989. Niemand hat damit gerechnet, dass durch das friedliche Schreien des Volkes eine Mauer einstürzen kann, die 28 Jahre völlig unüberwindbar schien. Ein Ergebnis von glücklichen Fügungen und dem Mut der Ostdeutschen. Ein Wunder.

Was ist mit dem Gelähmten, der wieder gehen kann? Vielleicht haben Sie das selbst schon erlebt. Da ist einer starr vor Angst, bewegungslos, sieht keinen Ausweg und verkrümmt sich in sich selbst. Dann ändert sich alles durch ein Wort: „Ich bin für dich da. Ich helfe dir. Wir stehen das zusammen durch.“ Und der andere kann sich aufrichten, kann einen ersten Schritt machen. Ein Akt der Zuwendung und Ermutigung. Ein Wunder.

Ich glaube, es geht bei den Wundergeschichten nicht um den Gegensatz zwischen Magie und Naturwissenschaft. Ich glaube sogar, dasselbe Ereignis könnten Beobachter entweder als reinen Zufall, als menschliches Wirken oder als göttliches Wunder ansehen. Je nach eigenem Standpunkt.

Die Wundergeschichten der Bibel wurden von Glaubenden geschrieben. In erster Linie sind es Texte, die von den eigenen Gotteserfahrungen erzählen. Von einem Gott, der nicht irgendwo fern im Himmel wohnt oder der ein kosmisches Prinzip ist. Sondern der in dieser Welt lebt und den die Menschen ganz persönlich als wirksam erfahren haben – als Helfer, als Tröster, als Retter.

Das ist ein Wunder. Wirklich wahr.


[1] Ex 16.

[2] Jos 6.

[3] Joh 5.

Über den Autor Sebastian Fiebig

Sebastian Fiebig wuchs in Hamburg auf und studierte Theologie in Münster. Heute arbeitet er als Pastoralreferent im Erzbistum Hamburg. Sein Weg führte ihn in die Pfarrpastoral und die Seemannsseelsorge im Hamburger Hafen. Beauftragt wurde er auch mit dem Gedächtnis an die Lübecker Märtyrer, die in der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand leisteten und hingerichtet wurden. Sebastian Fiebig wurde in die Ökumene- und Liturgiekommission des Erzbistums berufen. Seit vielen Jahren schreibt er Radiobeiträge für die Kirchensendungen des NDR.

Kontakt: sebastian.fiebig@erzbistum-hamburg.org