Der Bibel sagt man ja nach, dass sie Erzählungen enthält, die für alle Zeiten gelten. Für mich ist das Buch Rut aus dem Alten Testament solch ein Beispiel. Ein Buch über zwei geflüchtete Frauen. Das ist bemerkenswert. Frauen mit Fluchterfahrung aus Regionen, in denen Frauen in der Gesellschaft nicht viel gelten, erhalten solch eine Aufmerksamkeit in der Regel nicht – obwohl sie es bitter nötig haben. Damals wie heute. Und genau darum lohnt es sich, auf die alte Geschichte zu schauen: Sie gibt zu denken. Und sie regt zum alternativen Handeln an, bestimmten Personengruppen gegenüber und jenseits von Vorurteilen. Damals wie heute.
Im Buch Rut beginnt alles mit einer Hungersnot. Eine Frau, Noemi, flüchtet mit Mann und Söhnen von Betlehem in Juda ins Nachbarland Moab – in der Hoffnung auf Zukunft. Doch der Mann stirbt bald. Die beiden Söhne aber heiraten Frauen aus dem Zufluchtsland: Orpa und eben Rut. So geht das Leben weiter. Doch auch die Söhne sterben früh. Wir erfahren nicht wodurch. Für die Botschaft, die das Buch Rut rüberbringen will, ist das Schicksal der Frauen wichtig, das einmal nicht hinter dem der Männer verschwindet. 1. Lektion.
Zunächst aber noch einmal Perspektivlosigkeit. Noemi und ihre Schwiegertöchter sind allesamt kinderlose Flüchtlingswitwen. In ihrer Geschichte bildet sich bitter ab, wie im damaligen Zeitkontext das Leben von Frauen ganz und gar abhängig in die Hände von Männern gegeben ist. Frauen ohne Männer und ohne Söhne sind ein Nichts und Niemand.
Doch das Buch Rut erzählt eine Geschichte, in der auch von diesen Frauen nur gut gesprochen wird. Es sind starke, liebevolle, solidarische Frauen, die sich gegenseitig mit allem unterstützen, was sie sind und haben. Das wird wahrgenommen und wertgeschätzt. 2. Lektion.
Als Rut eines Tages mit Noemi in deren alte Heimat Betlehem zieht, ist sie selbst nun dort die ganz Fremde, ein Sozialflüchtling. Doch sie wird – wider aller Erwartung – geachtet, weil sie wahrgenommen wird als der liebevolle Mensch, der sie ist, und nicht abgewertet und reduziert auf ihre fremde Herkunft. 3. Lektion.
Die Menschen im Buch Rut nehmen nicht, sie geben – aus ganzem Herzen. Das ist vielleicht die schönste Lektion, die das Buch seinen Leserinnen und Lesern mitgibt. Es gilt auch für den Gutsbesitzer Boas, auf dessen Feldern Rut die Ähren aufliest, die bei der Ernte liegenbleiben. Armenrecht. Es ist das einzige, was Rut bleibt. Doch Boas reicht das nicht. Er lässt sich auf eine Begegnung auf Augenhöhe mit Rut ein.
Und schließlich werden der Israelit Boas und die Moabiterin Rut ein Paar – gegen jede Konvention. Die Art und Weise, wie ihre Geschichte erzählt wird, macht sie zu einer berührenden Kontrastgeschichte zu fast allem, was zu jener Zeit in Gesellschaft und Religion Norm war. Grenzen werden verschoben, überschritten oder weggefegt in Liebe und einem neuen Verständnis füreinander.
Zum Zauber der Geschichte gehört, dass es also die Toleranz und die Großherzigkeit der Bevölkerung Betlehems sind, die überhaupt den Weg bereiten für die weitere Geschichte von Judentum und Christentum. Denn aus der Verbindung von Rut und Boas wird vier Generationen später ihr Urenkel König David geboren, Israels größter König, und weitere achtundzwanzig Generationen später in der christlichen Weihnacht in einem Stall in Betlehem Jesus, der Christus.
Das Buch Rut – kein Märchen, sondern "Heilige Schrift" für Judentum und Christentum. Eine Gottesbotschaft also über Flucht und Heimat, über Menschlichkeit – und über die Liebe. Eine Anregung über Möglichkeiten des Handelns und über Grenzen, die das Leben nicht braucht. Für mich eine Inspiration wie geschrieben für unsere Zeit!