Newsletter

Tränen

Morgenandacht, 20.08.2024

Sebastian Fiebig, Hamburg

Beitrag anhören

Opa ist sehr traurig. Seine Mutter ist gestorben, weit über 90 Jahre alt ist sie geworden. Heute ist ihre Beerdigung, und der Großvater steht neben seiner kleinen Enkelin am Grab und weint. Sie greift seine Hand und sagt: "Opa, wir weinen jetzt und dann lassen wir alle Tränen hier."

Ich mag alles an dieser Geschichte: Wie die Kleine die Situation erfasst und wie sie ihren Opa trösten möchte. Sie findet: Wer traurig ist, der darf weinen. Weinen ist wichtig. Und jetzt ist die Zeit zum Weinen. Sie weiß auch: Es kommt wieder eine andere Zeit, das Weinen wird vorbeigehen, die Trauer sich wandeln in dankbare Erinnerung.

Vor allem mag ich ihren Gedanken: Die Tränen bleiben hier. Hier auf dem Friedhof, hier am Grab. Denn dies ist auch der richtige Ort für sie. Die Tränen am Grab drücken aus, wie sehr wir jemanden vermissen. Am Grab fühlen wir besonders die Liebe, die uns verbunden hat und immer noch verbindet. Und das Grab wird ein Erinnerungsort für diese Liebe bleiben. Wir selber dürfen weitergehen, wieder zurück in unser Leben. "Wir lassen alle Tränen hier."

In der Öffentlichkeit zu weinen, das war früher normal. In vielen Kulturen ist das auch heute noch so. Doch hierzulande hat sich das in den letzten Jahrzehnten verändert. Seinen Tränen freien Lauf zu lassen, gilt bei vielen als unangenehm. Manche schämen sich für ihre Tränen und möchten nicht als schwach angesehen werden. Geweint wird trotzdem, mitunter in großer Einsamkeit. Wieviele Tränen werden wohl jeden Tag und jede Nacht vergossen? Vielleicht würde es gut tun, wenn da einer mitfühlt. Wenn ich weiß: Meine Tränen sind nicht umsonst geweint. Ich möchte glauben: Meine Tränen werden wahrgenommen, gesehen und gehört.

In einem uralten Vers der Bibel bittet jemand Gott: "Sammle meine Tränen in einem Krug" [1]. Ich stelle mir so einen Tränenkrug vor, voller geweinter Tränen. Im Durchschnitt weint jeder Mensch in seinem Leben 65 Liter an Tränen. Tränen der Trauer, Tränen der Verzweiflung, Tränen des Zorns, Tränen des Schmerzes, Tränen der Verletzlichkeit. Ich finde das Bild stark: Die Tränen der Vielen vermischen sich in einem Krug. Es gibt ein Gefäß, um miteinander zu Klagen und dabei mit den anderen mitzufühlen. Die Klage und das Leid werden sichtbar und hörbar, sie sind nicht länger versteckt.

Gott lässt sich davon anrühren. Er fängt die Tränen auf. Und damit fängt er auch uns auf. Er setzt sich wie ein guter Freund neben mich, legt den Arm um meine Schulter, hört zu, trauert, fühlt und schweigt mit mir. Vielleicht weint er auch selbst. Er leidet mit mir, wie er mit allen Trauernden leidet. Und das verändert etwas in mir. Ich brauche meinen Schmerz nicht im Herzen einzukapseln. Ich kann etwas abgeben davon, ihn loslassen, leichter werden. Ich lasse alle Tränen hier, bei ihm.

Es wird neue Tränen geben, sicherlich. Aber ich hoffe darauf, dass es einmal anders sein wird, in einer Welt, die nicht von dieser Welt ist. Das ist die Hoffnung, die im letzten Buch der Bibel verheißen ist: Gott "wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage" [2].

Damit diese Vision Wirklichkeit wird, helfen mir auch die Menschen, die Gott mir an die Seite stellt. Und ich kann anderen dabei helfen.


[1] Ps 56,9 (EÜ 1980)

[2] Offb 21,4

Über den Autor Sebastian Fiebig

Sebastian Fiebig wuchs in Hamburg auf und studierte Theologie in Münster. Heute arbeitet er als Pastoralreferent im Erzbistum Hamburg. Sein Weg führte ihn in die Pfarrpastoral und die Seemannsseelsorge im Hamburger Hafen. Beauftragt wurde er auch mit dem Gedächtnis an die Lübecker Märtyrer, die in der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand leisteten und hingerichtet wurden. Sebastian Fiebig wurde in die Ökumene- und Liturgiekommission des Erzbistums berufen. Seit vielen Jahren schreibt er Radiobeiträge für die Kirchensendungen des NDR.

Kontakt: sebastian.fiebig@erzbistum-hamburg.org