"Fahre nicht schneller als dein Schutzengel fliegen kann!" So habe ich das neulich mal wieder auf dem Aufkleber am Heck eines Autos gelesen. Diese Mahnung dürfte Gehör finden, sind doch knapp zwei Drittel aller Deutschen überzeugt, dass es Schutzengel gibt. Wenn die Umfragen stimmen, glauben sogar mehr Leute an die Existenz der Engel als an Gott selbst.
In den Kirchen scheinen die Engel eher heimatlos geworden zu sein. In den Predigten kommen sie heutzutage nur noch selten vor. Und das verwundert, wenn man bedenkt, dass Engel rund 300 Mal in der Bibel genannt werden. Fast immer sind sie im Auftrag Gottes unterwegs. Sie verkünden eine frohe Botschaft – man denke an Weihnachten und Ostern – oder retten Menschen aus größter Not: Abrahams Sohn Isaak, den Propheten Elija oder den Apostel Petrus im Gefängnis. Um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Längst haben die Engel außerhalb von Religion und Kirche ein neues Zuhause gefunden. Sie sind fester Bestandteil unserer Alltagskultur geworden. So macht sich die Werbung ihr positives Image zunutze, wenn freundliche Engel "himmlisch" gute Produkte anpreisen. Und welcher Autofahrer wüsste nicht von den "Gelben Engeln" des ADAC zu berichten, die ihm als Pannenhelfer in größter Not zur Seite standen.
Auch in der Kulturszene sind Engel allgegenwärtig. Man denke nur an die Film- und Musikbranche. Von Wim Wenders "Himmel über Berlin", über John Travoltas Komödie "Michael" bis zu den Songs von Abba, Uriah Heep, Silbermond oder Taylor Swift.
Ja, sogar hartgesottene Whiskyfreunde wissen um die Macht der Engel. "Angel´s Share" nennen sie den Anteil des Whiskys, der jedes Jahr während der Reifung in den Eichenholzfässern verdunstet. Den haben sich dann die Engel gesichert…
Aber Spaß beiseite. Für viele Menschen verkörpern die Engel Schutz und Geborgenheit. Sie vermitteln das Gefühl der Nähe und des Angenommenseins. Diese Sehnsucht ist es, die viele antreibt, sich der Hilfe eines Engels zu versichern. Und das auch ganz handfest:
So vertreibt der ökumenische Verein "Andere Zeiten" in Hamburg eine kleine Engelfigur aus Bronze, nur sieben cm groß und 100 Gramm leicht. Aber man kann sie mit der Hand fest umschließen. Der Engel ist glatt und hat keine Kanten. In gut 20 Jahren sind mehr als 1,5 Millionen Exemplare verkauft worden. Unzählige Male hat der Schutzengel geholfen. So wird er verschenkt an Verwandte und Freunde, die zu einer Operation ins Krankenhaus müssen. Eltern geben ihn ihren Kindern mit, wenn in der Schule Klassenarbeiten anstehen. Oder der Engel wird zum Begleiter auf größeren Reisen.
Sich von einem himmlischen Wesen beschützt zu wissen – das vermittelt Hoffnung und Zuversicht. Jeder kann sich seinen Schutzengel so vorstellen wie er möchte. Grundsätzlich sind Engel ja keinem Geschlecht zuzuordnen. Das lässt auch der kleine Bronzeengel offen. Er ist dem Betrachter zugewandt. Nichts Menschliches ist ihm fremd. Und doch machen seine Flügel klar, dass er auch einer anderen Sphäre angehört, über die wir nicht verfügen können. Der Engel bleibt ein Grenzgänger zwischen Himmel und Erde. Das kann man als religiös im klassischen Sinn verstehen, muss es aber nicht.
Kristian Fechtner, Professor für Theologie an der Universität Mainz, betrachtet diesen Umgang mit den Engeln als eine Form des "unauffälligen Christentums". Dazu zählt er auch andere Verhaltensweisen. So etwa das bei vielen beliebte Anzünden von Kerzen in den Kirchen oder das Aufstellen von Holzkreuzen an einem Unfallort zum Gedenken an den tödlich Verunglückten. Die Menschen, die das tun, sind ja nicht alles überzeugte Christen. Aber sie haben ein Gespür für eine Wirklichkeit, die über sie und über die alltägliche Welt hinausweist.
Literatur: Fechtner, Kristian: "Mild religiös. Erkundungen spätmoderner Frömmigkeit", Kohlhammer. Stuttgart 2023.