Maria sprach nicht mehr. Niemand im Seniorenheim wusste, ob die 102-Jährige nicht mehr reden konnte oder nicht mehr wollte.
Als dann zwischen Weihnachten und Neujahr die Personaldecke bedenklich dünn war, war es Anna Bauer, die begann Maria zu füttern. Schon seit Wochen bekam die alte Frau keine feste Nahrung, nur Brei. Nach wenigen Tagen konnte Anna keinen Brei mehr sehen, und sie vermutete, dass es Maria genauso gehen könne. Doch Maria sprach nicht. Anna aber sprach mit ihr, genauso wie mit ihrer Tochter oder der Nachbarin. "Maria, ich könnte eine gekochte Kartoffel besorgen oder ein Gemüse." Maria sagte nicht Ja und nicht Nein. Also brachte Anna am nächsten Tag eine gekochte Kartoffel und etwas Butter mit. Maria aß die Kartoffel, die Butter auch. Einige Tage später, als eine andere Mitarbeiterin ihr wieder den üblichen Brei hinstellte, geschah es. Maria fing wieder an zu sprechen. Sie sagte: "Das können Sie mitnehmen, ich mag das nicht."
Anna hatte erkannt, dass Maria womöglich ihr Leben wieder etwas mehr selbst in die Hand nehmen wollte, in einem überschaubaren Rahmen, aber in einem elementaren Bereich. Menschen blühen auf, wenn jemand Zeit für sie hat, aufmerksam zuhört, auch auf das hört, was sich nicht in Worte fassen lässt. Fühlen Menschen sich füreinander verantwortlich und packen an, damit das Leben wieder bunt wird, dann dreht sich der Wind und schiebt das Lebensschiff auf einen neuen Horizont zu.
Ich musste an eine Geschichte denken, von der ich neulich gelesen hatte. Die amerikanische Anthropologin Margret Mead wurde gefragt, welcher Gegenstand ihrer Meinung nach als erstes Anzeichen unserer Zivilisation gewertet werden kann. Da gab sie die verblüffende Antwort: "Ein verheilter Oberschenkelknochen." Für die Wissenschaftlerin war dieser Fund aus einer Zeit einige Jahrtausende vor Christus ein Zeichen für die menschliche Fähigkeit, sich nicht mehr nur um sich selbst sondern auch um andere zu sorgen.
Ein Lebewesen mit einem gebrochenen Knochen hat keine Überlebenschance, erst recht nicht, wenn es sich den Oberschenkelhals bricht. Es kann nicht mehr stehen oder gehen, nicht mehr fliehen und keine Nahrung besorgen. Der verheilte Knochen war für Magret Mead das Zeichen, dass jemand da war, der sich dieses Menschen angenommen hatte, der ihm zu essen und zu trinken brachte, der bei ihm blieb und ihm so die Möglichkeit gab, in Ruhe gesund zu werden.
Die Schlüsselwörter einer zivilisierten, humanen Gesellschaft lauten: Kompromiss, Kooperation, Fürsorge, Fantasie und Mitdenken.
Der Mensch ist nicht für die Einsamkeit gemacht, weder für grundlose Angst noch für kollektiven Hochmut. Wir haben die besten Überlebenschancen, wenn wir beieinanderbleiben, füreinander einstehen und gemeinsam die Ressourcen unserer so vielfältigen, verschiedenen Begabungen ausschöpfen. Zerbricht bei einem oder einer von uns etwas, ein Oberschenkelhalsknochen, eine Beziehung, ein Lebenstraum oder die gewohnten Strukturen im spirituellen Bereich, dann ist es gerecht und weise, in einer gemeinsamen Anstrengung das Zerbrochene anzuschauen, es nach Möglichkeit heilen zu lassen oder seinen Verlust zu betrauern.
Anna fand, dass es gut sei, Maria zu zeigen: "Wir gehen gemeinsam an, was dein Leben gut macht. Ich bin da, bei dir. Fürchte dich nicht." Und das, was sie gut fand, tat sie dann auch, weil es gut war.