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Sisyphos hat Spielräume

Morgenandacht, 21.02.2025

Peter-Felix Ruelius, Schlangenbad

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Der Mythos von Sisyphos ist bekannt. Sofort haben viele den anstrengenden Weg eines Mannes vor Augen, der einen Stein den Berg hinaufwälzen muss, um dann machtlos zuzuschauen, wie dieser Stein kurz vor dem Gipfel wieder ins Tal hinunterrollt. Einen Ausweg gibt es nicht. Die Strafe ist ewig. Und so sprechen wir von Sisyphos und einer Sisyphos-Arbeit immer dann, wenn es mehr oder weniger aussichtslos wird. Der Mythos nutzt sich nicht ab, denn es gibt ja so vieles, mit dem man anfangen und immer wieder anfangen muss, ohne dass es wirklich vorangeht. Über dem Mythos steht die Überschrift Vergeblichkeit.

Ich muss bei Sisyphos an ein Projekt denken, das ich bereits seit rund einem Jahrzehnt verfolge. Es fasziniert mich, weil ein damals noch sehr junger Mensch, Boyan Slat, nach einem Tauchurlaub in Griechenland von der Idee angesteckt war, man müsste den Plastikmüll aus den Ozeanen bekommen. Millionen Tonnen Plastikmüll schwimmen in den Weltmeeren und zigtausende Tonnen kommen jährlich dazu. Plastikmüll lagert sich an allen Küsten ab.

Also hat Boyan Slat Mitstreiter gesucht und gefunden, geforscht, entwickelt, Ideen skizziert und verworfen, Lob eingeheimst und jede Menge Kritik. Die Idee: Den Plastikmüll herausfischen, einsammeln und dem Recycling zuführen. "Ocean Clean-Up" hat er sein Projekt genannt. Er hat mit einem Prototyp gearbeitet und wenig erreicht. Rückschläge blieben nicht aus. Einzelne Forscher stehen auf seiner Seite und viele gegen ihn. Teilweise mit viel Häme. Das kann nicht funktionieren, sagen sie – die Technik ist unzulänglich, verbraucht zu viele Ressourcen und kann das Mikroplastik ohnehin nicht einfangen. Für Boyan Slat hieß das: Weitermachen. Neu versuchen. Die Technik verbessern. So geht das seit Jahren. Gibt es mittlerweile einen Erfolg? Im Jahr 2024 waren es fast 12.000 Tonnen Plastikmüll, die eingesammelt wurden. Immerhin. Das Ziel ist nach wie vor: die Weltmeere sauber machen.

Dass einem hier der Mythos von Sisyphos in den Sinn kommt: Keine Frage. Zu groß ist die Aufgabe, immer wieder Rückschläge, immer wieder neu anfangen. Meine Sympathie haben beide: der antike Sisyphos und Boyan Slat, der sich mit der Reinigung der Weltmeere eine wirkliche Sisyphos-Arbeit vorgenommen hat.

Vielleicht kommt das auch daher: Es gibt so etwas wie eine christliche oder biblische Grundsympathie für Menschen mit aussichtslosen Unterfangen. David und Goliath – das ist so eine Geschichte: winzig und unerfahren der eine, groß und unbesiegbar der andere. Und auch unter den Propheten der Bibel sind einige, die von sich selber genau wissen, dass sie zu schwach oder zu unerfahren für größere Aufgaben sind.

Doch immer wieder gibt es den Impuls, nicht aufzugeben, beharrlich zu bleiben, weil es sich lohnt, Immer wieder gibt es die, die nicht stillhalten können, weil die Aufgabe so drängend ist und das Ziel kein Aufgeben erlaubt. Und tatsächlich sind es die Geschichten von Einzelnen, manchmal auch Unerfahrenen, die mich in meinem Leben ermutigen, wenn ich meine, dass der Stein immer wieder den Berg hinabrollt oder ich mit einem Fingerhut das Meer ausleeren müsste. Ich denke dann: Sisyphos hat Spielräume. Die liegen in seinem Inneren. In der Kraft der Beharrlichkeit. In der Faszination eines Ziels, für das sich alles lohnt.

Und dann, irgendwann, hat Sisyphos vielleicht doch den Stein am Berg verankert, irgendwann ist das Meer vielleicht wirklich wieder sauber und die Welt ein kleines bisschen besser.

Über den Autor Dr. Peter-Felix Ruelius

Dr. Peter-Felix Ruelius, geboren 1964, ist Theologe und leitet gemeinsam mit einer Kollegin den Bereich Christliche Unternehmenskultur / Ethik bei den Franziskanerbrüdern vom Hl. Kreuz. Als Trainer, Supervisor und Coach begleitet er Menschen in ihren beruflichen Herausforderungen und Entwicklungen. Peter-Felix Ruelius war lange Zeit als Religionslehrer in Fulda tätig und arbeitete mehrere Jahre in der Lehrerfortbildung.