"Auge um Auge, Zahn um Zahn!"[1] Wer so redet, der hat meistens Wut im Bauch und das dringende Empfinden, jemanden etwas Erlittenes heimzuzahlen. Genauer gesagt geht es meistens darum, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Jemand betrügt dich? Wisch ihm eins aus! Jemand schlägt dich? Schlag zurück! Eben: "Auge um Auge, Zahn um Zahn!" Diese Art der Vergeltung kann endlos weitergehen. Die Frage wer angefangen hat, kann schließlich niemand mehr sicher beantworten. Der Konflikt begann irgendwie und irgendwo ganz klein und wurde mit jedem Schritt größer. Irgendwann wurde daraus die Vergeltung der Vergeltung der Vergeltung, eine Orgie von Gewalt und Gegengewalt. Das kann im Privaten passieren oder auch im Weltgeschehen.
Die Redewendung "Auge um Auge, Zahn um Zahn!" stammt aus der Bibel. Aber so, wie sie meistens gebraucht wird, ist sie da überhaupt nicht gemeint. Im Buch Exodus heißt es wörtlich: "Ist [...] Schaden entstanden, dann musst du geben: [...] Auge um Auge, Zahn um Zahn, [...] Wunde um Wunde, Strieme um Strieme."[2] Der Text spricht nicht von Rache, sondern es geht hier gerade um die Mäßigung der Rachegefühle, an deren Stelle tritt ein Schadenersatz, der angemessen sein soll.
Die Worte stehen im Bundesbuch, einer Gesetzessammlung am Anfang der Bibel. Sie wurde in ihren Ursprüngen vor über 2800 Jahren niedergeschrieben. Genau wie moderne Gesetze regelt der Text, wie man in einer Gemeinschaft so zusammenleben kann, dass alle zu ihrem Recht kommen. Ein überraschend moderner Text, wenn man ihn sich gründlich anschaut. Ich finde vier Aspekte bemerkenswert, um seine Bedeutung zu würdigen:
Erstens: Die Regel war zu ihrer Entstehungszeit ein riesiger Fortschritt. Üblich war es bis dahin nämlich, für manche Vergehen den Tod des Gegners zu fordern, um die Ehre wiederherzustellen. Das Prinzip der Blutrache konnte sich so lange hinziehen, bis ganze Familien ausgelöscht waren. Hier sagt die Bibel: Stopp! Keine maßlose Gewalt, keine Spirale der Rache.
Zweitens: Vergehen und Strafe sollen zueinander in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.
Drittens: Es gibt klare Bestimmungen zum finanziellen Schadenersatz, zur Wiedergutmachung. Der Täter soll für den Schaden in angemessener Höhe bezahlen.
Und Viertens: Es gibt neutrale Schiedsrichter, die zwischen den Parteien für einen fairen Ausgleich sorgen.
"Auge um Auge, Zahn um Zahn!" Die Redewendung aus der Bibel, die in ihrer Entstehungszeit wirklich einen Fortschritt brachte und einen Unterschied machte. Die selbst heute noch, wenn sie richtig verstanden wird, nicht weit von unserem modernen Rechtssystem entfernt ist.
Die Bibel weiß es, wir wissen es auch: Der Mensch ist zur totalen Eskalation fähig, an deren Ende nur noch Verlierer und totale Zerstörung stehen. Die Regeln zur Wiedergutmachung eines Schadens sollen genau das verhindern: dass sich Gewalt hemmungslos Bahn bricht und maßlos anwächst. Wenn Konflikte schon nicht immer zu vermeiden sind, können wenigstens ihre Folgen unter Kontrolle gebracht werden. Dann kann die Gerechtigkeit wachsen und unter den Menschen wieder neues Vertrauen entstehen.
[1] Ex 21,24f
[2] Ex 21,23f