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Einsamkeit

Morgenandacht, 21.08.2024

Sebastian Fiebig, Hamburg

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Es muss sehr schnell gehen. Die Verkäuferin schiebt Joghurt, Milch, Broccoli und Küchentücher über den Scanner und weiter auf das winzige Ende des Kassenbandes. Ich kann meine Einkäufe gar nicht so rasch in den Einkaufswagen packen, wie der Nachschub näherrückt. Platsch, da ist es passiert! Ein Joghurtbecher landet auf dem Boden und platzt auf. Die ganze Hektik – umsonst. Es muss jemand zum Aufwischen kommen, die Kunden werden unruhig. Aus dem Lautsprecher tönt die Durchsage: "Es wird sofort eine neue Kasse für Sie geöffnet."

Ganz anders in Kempen am Niederrhein [1]. Hier gibt es im Supermarkt eine extra langsame Kasse, an der man nicht nur ganz in Ruhe einpacken kann oder im Kleingeld kramen, sondern auch erzählen darf. Das ist die "Plauderkasse". An zwei Vormittagen in der Woche ist sie geöffnet, zusätzlich zu den normalen Kassen. "Hier haben Sie alle Zeit der Welt", steht auf der Fahne neben der Kasse. Gerade bei älteren Menschen kommt das gut an. Sie reden mit der Kassiererin oder den anderen Kunden drumherum über alles, was sie auf dem Herzen haben: Wie ihr Tag so war, wie das Wetter wird, was die Enkel machen. Für sie ist das eine Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen und Begegnungen zu haben – und damit ein Weg, sich der Einsamkeit entgegenzustellen. Auch Familien mit Kindern nutzen die Plauderkasse gern. Sogar die Kassiererin freut sich darüber. Für sie bedeutet die Plauderkasse weniger Hektik und obendrein Geschichten, die ihren Tag schöner machen.

"Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist" [2], so heißt es gleich am Beginn der Bibel. Ja, als soziale Wesen sind wir geschaffen, wir Menschen suchen und brauchen den Kontakt zueinander. Und doch gibt es auch in der Bibel Geschichten von Einsamkeit. Jesus selbst hat am Kreuz die wohl radikalste Einsamkeit erlebt. Jeder stirbt für sich allein? Die Auferstehung Jesu macht mir Hoffnung, dass mich am Ende nicht Einsamkeit erwartet, sondern tiefe Gemeinschaft.

Wie ist das hier und jetzt? In meiner Stadt Hamburg lebt mehr als die Hälfte der Menschen allein im Haushalt. Doch das ist noch kein Auslöser für Einsamkeit. Man kann ja alleine sein und damit glücklich, ebenso kann man unter Menschen sein und sich einsam fühlen. Aber auf Dauer zu wenig soziale Kontakte zu haben, kaum Gespräche zu führen, keine Nähe zu erfahren, das belastet und kann krank machen. Ein erhöhtes Risiko dafür haben Singles, ältere Menschen, pflegende Angehörige und Alleinerziehende. Jeder vierte Erwachsene in Deutschland fühlt sich laut aktuellen Erhebungen "sehr einsam"[3]. In der Pandemie stieg die Einsamkeit bei Jugendlichen steil an. In schlimmen Fällen entsteht auch ein Teufelskreis aus Einsamkeit und Menschenscheu, aus dem man schwer wieder herausfindet.

Was hilft, um aus der Einsamkeit herauszukommen? Mein Blick geht in zwei Richtungen: Helfen kann natürlich ein guter Kontakt mit anderen, aber helfen kann auch ein guter Kontakt mit sich selbst. Oder anders ausgedrückt: Sich mit anderen vernetzen und sich selbst gut behandeln. – Vielleicht kann es so beginnen: "Ich bin mir das wert. Ich koche auch für mich alleine ein kleines Menü und decke den Tisch schön. Ich gehe ins Kino, nur für mich. Ich bin liebenswert!" Wenn ich mich mag, dann strahle ich das auch aus. Das kann schon was verändern. Und das Vernetzen, das darf ganz klein anfangen. Ein kurzes Gespräch an der Plauderkasse oder am Gartenzaun kann wirklich ein Anfang sein. Wer sich mehr traut, sucht Gleichgesinnte. Zum Kuchen backen oder Sport treiben. Vielleicht ein Ehrenamt, bei dem ich anderen helfen kann und dadurch eine Aufgabe habe. All das kann mich in Beziehung bringen. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist.


[1] www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/plauderkasse-einkaufen-entschleunigung-100.html .

[2] Gen 2,18 (EÜ 2016).

[3] Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Deutschland-Barometer Depression 2023.

Über den Autor Sebastian Fiebig

Sebastian Fiebig wuchs in Hamburg auf und studierte Theologie in Münster. Heute arbeitet er als Pastoralreferent im Erzbistum Hamburg. Sein Weg führte ihn in die Pfarrpastoral und die Seemannsseelsorge im Hamburger Hafen. Beauftragt wurde er auch mit dem Gedächtnis an die Lübecker Märtyrer, die in der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand leisteten und hingerichtet wurden. Sebastian Fiebig wurde in die Ökumene- und Liturgiekommission des Erzbistums berufen. Seit vielen Jahren schreibt er Radiobeiträge für die Kirchensendungen des NDR.

Kontakt: sebastian.fiebig@erzbistum-hamburg.org