Nördlich meiner Heimatstadt Münster erstreckt sich ein Landschaftsschutzgebiet mit dem Namen "Die Rieselfelder". Diese Felder sind weitläufige Überschwemmungswiesen, früher als sogenannte "Verrieselungsflächen" für das Abwasser der Stadt angelegt und bis 1975 so genutzt. Noch im Betrieb entwickelte sich ein kleines Paradies für allerlei Tierarten, die die im 20. Jahrhundert selten gewordenen Feuchtgebiete für sich eroberten. Und so sind seit der Errichtung der ersten Kläranlage der Stadt die alten Rieselfelder ein geschütztes Biotop für seltene Arten, vor allem für seltene Vögel.
Hier kann man in den Wintermonaten des neuen Jahres gut spazieren gehen. Besonders dann, wenn der weiße Nebel wunderbar und dick wie Eintopf aus den Wiesen steigt und die gesamte Szenerie in mysteriöses Dämmerlicht taucht und alle Konturen um einen herum verschwimmen lässt.
"Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein.
Kein Baum sieht den andern.
Jeder ist allein."
Rilkes existenzialistisches Gedicht passt irgendwie gut dazu. Abgeschiedenheit und Trennung können bedrückende Dimensionen annehmen und zur Einsamkeit werden. Aber in Maßen und in freier Wahl ist mir diese Abgeschiedenheit manchmal durchaus ganz lieb.
Im dichten Nebel der Münsteraner Rieselfelder des neuen Jahres fühle ich mich hier aus dem Alltagegewusel herausgenommen. Ins endlose Grauweiß des weichen Nebels kann ich meine Gedanken laufen und sich austoben lassen. Den Nachhall wahrnehmen, was im alten Jahr und über die Feiertage war und mich langsam innerlich rüsten für das, was da noch kommt.
Auf diese "sortierende" Art sind mir solche Spaziergänge in den Rieselfeldern im Kleinen wie etwas, das ich Menschen in meiner seelsorglichen Arbeit als "Exerzitien" nahelege. Das sind Auszeiten geistlicher und geistiger "Übung". Eine seit Jahrhunderten bewährte Praxis. Exerzitien bieten einen Rahmen, der mich behutsam aus meinem Alltag rausnimmt. Oft an einem abgelegenen, reduzierten Ort, an dem mir idealerweise auch eine geschulte Begleiterin oder ein Begleiter für die vorgenommene Zeit zur Verfügung steht.
Ich selbst mache bei Exerzitien oft die Erfahrung: Wenn ich mir am Anfang des neuen Jahres so eine Auszeit einräumen kann, dann gibt mir das für das weitere Jahr die Möglichkeit und den mentalen Freiraum, eine innere Struktur vorzubereiten, ja einen geistlichen Proviant zu schaffen, von dem ich hoffentlich länger zehren kann. Dann legt sich über die Reste des alten Jahres, über die so gesehen dauer-beprasselte "mentale Verrieselungsfläche" meines Alltags ein Nebel heilsamer Distanz. Er gibt mir den nötigen Abstand für eine "Draufsicht" auf die Dinge und so Gelegenheit zur Orientierung.
Für mich bedeutet das: Ich vergewissere mich dessen, was mich im Leben trägt – meines Glaubens und dessen, was er mir bedeutet – und im Lichte dessen schaue ich auf mich, auf das, was war und das, was sein wird.
Das neue Jahr hat begonnen. Keine Ahnung, was es mit sich bringt und welche Überraschungen es birgt. Aber ich wünsche Ihnen, dass Sie Momente finden, in denen Sie innehalten und sich einen Ausblick und Orientierung verschaffen können. Ich bin überzeugt, es wird sich lohnen.