Auf den ersten Blick gehört die ägyptische Magd Hagar zu den Nebenfiguren in der langen Geschichte Gottes mit den Menschen, wie die jüdisch-christliche Bibel sie erzählt. Bei näherem Hinsehen aber zeigt sich im Geschehen um ihre Person etwas von der zeitlosen Grundbotschaft dieses Gottes: nämlich, dass es für ihn keine Nebenfiguren gibt. Jeder Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch – und darum in den Augen Gottes kostbar. Nebensächlich sind Geschlecht, Herkunft, Stand oder Religion eines Menschen… jedenfalls, wenn man den biblischen Gottesgeschichten folgt.
Hagar ist eine Ägypterin, eine Sklavin; mehr Besitz als Mitmensch in der Sippe Abrahams, des großen Stammvaters dreier Weltreligionen. Was über sie berichtet wird ist auch ein Zeitzeugnis für die Kultur im Alten Orient. Darin gibt es keinerlei Selbstbestimmungsrechte für Frauen; erst recht nicht für eine Sklavin. So ist die Geschichte Hagars die Geschichte einer gedemütigten und schamlos ausgenutzten Frau. Dabei bleibt es nicht. Aber es bleibt wichtig, auf diesen Teil der Geschichte zu schauen.
Die Schmerzgrenze ist schnell erreicht: Niemand fragt danach, wer Hagar ist oder was sie braucht. Sie existiert für den Bedarf anderer. Das reicht so weit, dass sie auf verstörende Weise für die Nachkommenschaft Abrahams und Saras herhalten muss. Sara, die Herrin, ist unfruchtbar. Abraham, der Stammvater ohne Nachkommen. Auch wenn die Bibel kaum mehr als einen Satz dafür übrighat, ist es letztlich eine Vergewaltigung, von der nun berichtet wird. Rechtmäßig.
Hagar, die Sklavin wird – gesellschaftlich legitimiert – als Leihmutter ausgebeutet. Sie bringt einen Sohn zur Welt. Nichts wird besser dadurch. Für niemanden. Und im Grunde ist das auch gut so. Denn solch teuflische Logiken sollten nicht funktionieren dürfen – und tun es doch bis heute.
In der alten biblischen Geschichte mit ihren tiefen Wurzeln, aus denen Judentum, Christentum und Islam wachsen, ist es Gott selbst, der einen anderen Weg weist: Hagar ist Frau, Ausländerin, Ungläubige, Sklavin. Weiter unten geht nicht. Und doch ist es diese Frau von ganz unten, der Einzigartiges widerfährt. Ausgerechnet Hagar ist der erste Mensch überhaupt, dem Gott einen Engel schickt. Sie ist die einzige Frau, der je von Gott Nachkommenschaft verheißen wird, das heißt eine Zukunft über Generationen. Und die Frau, die eigentlich gar nicht mehr existierte, gibt dem Ort, an dem sie Gottes Wort vernimmt, einen Namen und begründet damit eine heilige Stätte.
In all dem überragt Hagar für alle Zeit alle großen Frauen Israels. Ihre Geschichte bleibt dabei lange ein kräftezehrendes Auf und Ab. Gott aber geht alle Wege mit und führt Hagar und ihren Sohn schließlich an den rettenden Brunnen in der Wüste. Unter dem tiefen Eindruck der Geschehnisse gibt Hagar diesem Gott, den die Weltgeschichte hier gerade erst kennenzulernen beginnt, einen Namen: "El-Roï" = "Gott, der nach mir schaut". Nach ihr – und nach ihr noch nach vielen anderen, die nur am äußersten Rand der Menschenordnung vorkommen. Das bleibt Gottes wichtigste Botschaft: Ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch – ohne Unterschied.
Wer sich davon anstecken lassen mag, ist doppelt eingeladen. Zum einen, mit Gott sehen zu lernen. Und zum anderen, den wundervoll-vielfältigen Namen Gottes den Namen hinzuzufügen, den nur ich ihm geben kann: komponiert aus meiner ganz eigenen Lebenserfahrung.