Es war im Frühsommer letztes Jahr. Da ist mein Vater gestorben, gerade nebenan in der anderen Doppelhaushälfte. Mein Vater hatte ein schönes Leben. Am Ende war er alt und ist einfach schwach geworden. Und meine Familie und ich, wir hatten Riesenglück wie mein Vater gestorben ist. Ja, im Nachhinein kann ich es wirklich Glück nennen, wenn ich daran zurückdenke.
Da war ein einfühlsamer Palliativarzt mit den richtigen Medikamenten, da waren mein Bruder und meine Schwester, die Nachbarn und eine Freundin – also das engste Umfeld, alle zusammen.
Fünf, sechs Tage ist das so gegangen: einer war bei meinem Vater am Bett, und die anderen haben den Kindern bei den Hausaufgaben geholfen, Kuchen gebacken oder Rasen gemäht. Ich habe in der Zeit sogar meiner Tochter Frisbeespielen im Garten beigebracht.
Natürlich hatten wir auch schwere Momente. Als ihm die Schmerzen noch auf der gerunzelten Stirn anzusehen waren, oder als er angefangen hat sich wund zu liegen. Das war nicht leicht mit anzusehen. Aber dann wurde es auch endlich friedlich, als wir gemerkt haben, wie er langsam loslassen konnte. Es war zu spüren, das war bei ihm ein innerer Prozess. In den Tagen und Nächten seines Sterbens hat er begonnen, uns zu vertrauen. Dass wir es ohne ihn schaffen, dass wir all die Dinge noch erledigen, die er nicht mehr geschafft hat, und auch, dass er jetzt wirklich gehen kann.
Ich bewundere alle, die einen Tod verkraften müssen, und mir ist klar, dass es so vergleichsweise einfach wie bei uns ganz oft eben nicht ist. Dass mein Vater in Ruhe zuhause sterben durfte, ist ein Geschenk, das sich einerseits tiefgründig angefühlt hat, andererseits aber auch leicht, fast so wie die Frisbeescheibe im Garten. Daran denke ich immer wieder und die Leichtigkeit in diesem Bild hilft mir. Auch wenn mich meine Traurigkeit wieder besucht und ich dann wieder den Stapel mit den Kondolenzbriefen heraushole. All die Karten von Freunden und Verwandten.
An der Karte von meinem Freund Gerhard bleibe ich hängen. Vorne drauf ist ein Segelboot abgebildet, und innen drin steht diese Geschichte: Ein Segelboot startet seine Reise über den Ozean. Es segelt immer weiter davon und irgendwann verschwindet es am Horizont. Da sagt jemand: "Jetzt ist es verschwunden." Verschwunden wohin? Es ist aus dem Sichtfeld verschwunden – mehr nicht. Sein Mast, sein Rumpf, seine Segel sind genauso groß wie zu dem Zeitpunkt als es am Strand abgelegt hat. Dass es so klein geworden ist und dass ich denke es ist verschwunden, das liegt nur an meiner Perspektive. Und in dem Moment, wenn einer sagt: "Es ist weg", rufen andere begeistert: "Da kommt es."
Ich klappe die Karte zu und denke: Das Leben hat so viele Dimensionen, ich sehe meinen Vater jetzt nicht mehr, aber ich stelle mir vor: Die auf der anderen Seite vom Horizont, die haben ihn begrüßt. Und das sind nicht nur all die lieben verstorbenen Verwandten und Freunde meines Vaters. Ich glaube, in der Menge, die meinen Vater begrüßt hat, war sogar Jesus selbst dabei. Als einer unter vielen, die da stehen und strahlen. Die endlich eins sind mit ihrem Leben, mit Gott und der Welt, die so viel mehr sehen, als ich jetzt schon sehen kann. Ich hoffe, dass mein Vater jetzt auch zu seinem ganz neuen Strahlen gefunden hat.
Jedenfalls kann ich auch jetzt noch, mehr als ein halbes Jahr nach dem Tod meines Vaters hören, wie sie alle glücklich gerufen haben: "Schaut mal, er kommt."