In fast jeder katholischen Kirche gibt es ein Bild oder eine Statue von Maria, der Mutter Jesu, oder gleich mehrere. Mit dem Jesuskind im Arm, als Pietà mit dem Leichnam Jesu auf dem Schoß, als Schutzmantelmadonna oder als Frau im Sternenkranz. Schon immer wurde Maria verehrt wie keine andere Heilige. Die Domkirche in Hamburg, wo ich arbeite, trägt ihren Namen: St. Marien. Über dem Altar gibt es ein riesiges Mosaik. In der Mitte sind Jesus und Maria zu sehen, auf einer königlich gepolsterten Thronbank. Sie sind umgeben von Sternen, alles leuchtet golden, Engel flankieren die Szene. Ein Bild aus der Ewigkeit, nach dem Tod von Maria. Jesus wendet sich Maria zu, er setzt ihr behutsam eine goldene juwelenbesetzte Krone auf ihr Haupt. Er krönt seine Mutter zur Königin.
Heute feiern katholische Christen den Gedenktag Maria Königin. Den Ehrentitel Königin hat Maria als Ausdruck einer besonderen Würde erhalten. Aber er ist ein bildhafter Vergleich – wie jede Vorstellung, die wir vom Leben nach dem Tod haben. Ich glaube, die Details, was genau Maria nach ihrem Tod widerfahren ist und wie es nun genau im Himmel aussieht, sind nicht so wichtig. Wichtig ist dies: Die Christen glauben, dass Maria nach ihrem Tod in den Himmel kam und Gott bis heute nahe ist. Die Beziehung von Maria zu Jesus und seinem himmlischen Vater hat nie geendet, auch nicht durch den Tod Marias. Und darum hat Maria auch im Himmel einen Platz. In der Bildsprache der christlichen Kunst eben als Himmelskönigin.
Zu Lebzeiten hingegen war Marias Leben nicht so glanzvoll, wie man sich das Leben einer Königin vorstellt. Sie war nicht vermögend, nicht kostbar gekleidet, regierte kein Reich und Untertanen hatte sie auch nicht. In der Bibel ist sie anders beschrieben: Maria war eine junge Frau vom Land, aus Nazaret, einem Dorf in der Provinz Galiläa. Sie glaubte an Gott, so wie es die meisten Menschen in ihrem Dorf taten. Dann trat Gott auf eine besondere Weise in ihr Leben. Er wählte sie aus, um ein besonderes Kind zur Welt zu bringen: Jesus. Sie erzog ihren Sohn im jüdischen Glauben. Sie war voller Sorge, als der zwölfjährige Jesus bei einer Wallfahrt plötzlich verschwunden war und sie ihn nach atemloser Suche im Tempel wiedergefunden hat, wo er mit den Priestern diskutierte. Als Jesus erwachsen war, hörte Maria zu, wenn er vom Reich Gottes predigte.
Sie erlebte, dass er Kranke heilte und die Ausgegrenzten besuchte. Gerade weil sie außerhalb der Gesellschaft standen, brauchten sie besonders seine Zuwendung. Jesus war so ganz anders als die Priester und Schriftgelehrten. Er hat so ganz anders von Gott gesprochen. Jesus hat Gott "Abba" genannt, das heißt übersetzt "Vater" – oder genauer: "Papi". Eine ganz liebevolle Art, von Gott zu sprechen. Maria hat all das miterlebt. Es wird ihren Glauben verändert haben. Ich stelle mir Maria vor als eine Frau, die gut zuhört und genau beobachtet, darüber nachdenkt und die Dinge im Herzen bewegt. Im Reden und im Tun ihres Sohnes ist sie auch Gott nahe gekommen und ist im Glauben gewachsen.
Ich versuche, die beiden Blicke auf Maria zusammenzuführen. Was hat die goldene Maria im Himmel zu tun mit der Maria, die Jesus während seines Erdenlebens begleitet hat? So verschieden die Bilder auch sind, eins drücken sie beide aus: Die enge Beziehung zwischen Jesus und Maria.
Mein Blick fällt immer wieder auf ein kleines Detail des Mosaiks: Marias Hände. Maria zeigt auf Jesus. Mit beiden Händen. Sie selbst nimmt sich nicht wichtig, auch nicht mit der kostbaren Krone auf dem Kopf, nein, sie verweist auf Jesus. Als wolle sie sagen: "Er ist es, um den es hier geht. Mit ihm habe ich Gott neu kennengelernt. Ihm vertraue ich. Vertraut auch ihr ihm!"