Kommt man mit zwei Wörtern durch die Welt? Natürlich nicht. Oder doch?
James Krüss erzählt eine Geschichte, in der das funktioniert. Er legt sie einem Urgroßvater in den Mund, der zusammen mit seinem Urenkel die Welt der Sprache durchstöbert. "Mein Urgroßvater und ich" heißt das Buch, das ich als Kind vor rund einem halben Jahrhundert verschlungen habe – ein Geschenk meiner Oma, das mir vor Kurzem wieder in die Hände fiel. Ich blättere und lese mich fest.
Also: Kommt man mit zwei Wörtern durch die Welt?
In Hamburg lebt vor vielen Jahren ein Junge namens Andreas. Er ist der geschickteste Segeltuchflicker der ganzen Hafenstadt und daher beliebt als hilfreicher Handwerker an Bord. Als das Schiff, mit dem er gerade unterwegs ist, in Neapel anlegt, darf er, so sagt der Kapitän, ein bisschen durch das Königreich Neapel strolchen. Vierzehn Tage, so sagt der Kapitän, hätten sie hier zu tun.
Also packt Andreas seinen Seesack und macht sich auf. Er kommt auf einen großen Platz, wo gerade ein königlicher Beamter eine Bekanntmachung vorträgt. Andreas kann leider gar kein Italienisch, und so hat er keinen blassen Dunst, worum es geht. Lediglich zwei Wörter italienische Wörter kennt er: Si – das heißt ja, und Io, das heißt ich. In einem günstigen Moment, es hört sich gerade so an, als ob der uniformierte Mann eine Frage stellt, ruft er also laut "io". Die Menge staunt und blickt sich nach Andreas um.
Nun ist es aber so, dass gerade der König von Neapel verstorben ist und der Prinz, der nun König werden soll, seit drei Wochen aus dem Palast verschwunden ist. Und die Frage, die der Uniformierte stellt, ist, ob jemand weiß, wo der Prinz abgeblieben sein könnte. "Io", ruft Andreas laut. Also denkt jeder, er wüsste es. Und so geht es weiter. Ist der Prinz vielleicht in der Stadt? "Si", ruft Andreas. Ist er vielleicht hier auf dem Platz? "Si" – Und wer soll es sein? "Io".
Es beginnt ein Verwechslungsspiel. Das kann man sich denken. Und mit dem unbefangenen Einsatz seiner beiden italienischen Wörter wird Andreas – für kurze Zeit – König von Neapel. Es werden heitere vierzehn Tage für das Königreich, in denen Andreas geschickt mit Si und Io regiert. Für die Minister und Beamten ist es allemal angenehmer, wenn sie vom König niemals ein Nein zu hören bekommen. Und als der echte Prinz auftaucht und Andreas ohne viele Umstände wieder auf sein Schiff zurückkehrt, bleibt beim gesamten Hofstaat die Erinnerung an ein wunderbares Intermezzo.
Ist die Geschichte wahr? Natürlich, sagt der Urgroßvater. Schließlich wurde sie von einem Seemann erzählt und Seeleute – das weiß man ja – schwindeln nie oder selten.
In der Geschichte steckt ein sehr schöner pädagogischer Kern: Wenn Kinder selbstbewusst in die Welt gehen können, wenn sie lernen dürfen, unbekümmert "Ich" zu sagen, und wenn sie erleben, dass es mehr Gründe für ein Ja in der Welt gibt als für ein Nein, dann haben Kinder nicht nur einen Seesack voller Krimskrams in ihrem Leben dabei, sondern einen unendlich wertvollen Schatz. Zwei Wörter und eine große Portion Unbekümmertheit. Das ist eine wunderbare Ausstattung für das Leben, auch wenn man damit nicht König von Neapel wird.
Vielleicht habe ich vor fünfzig Jahren, ohne es damals zu wissen, ein bisschen von dieser Ausstattung mitbekommen. Das hat mich bisher ganz gut durch mein Leben begleitet. Und ich wünsche es allen Kindern, dass sie aufwachsen mit der Erfahrung, unbekümmert und selbstbewusst und mit gutem Grund Ich und Ja sagen zu können.