Ich bin kein Fan von Gremiensitzungen. Erst recht nicht, wenn sie bis in den Abend dauern. Denn der Gute-Nacht-Kuss für mein Kind kann ab und zu, aber nicht andauernd ausfallen. Als mal wieder in einer Sitzung kein Ende abzusehen ist, schreibe ich grummelnd meinem Mann, dass es später wird. Die Kollegin neben mir dagegen beginnt einzupacken und sagt in die Runde: "Tut mir leid, ich werde jetzt zuhause gebraucht." – "Und warum kann das nicht mal der Mann übernehmen?", raunt eine Kollegin, die uns gegenübersitzt. "Weil er tot ist!", entgegnet meine Tischnachbarin und verlässt den Konferenzraum.
Am Konferenztisch ist der Schreck bis zum Ende der Sitzung zu spüren. Es bleibt erstmal still, alle blicken verschämt drein. Auf dem Nachhauseweg denke ich, der Satz hätte auch mir rausrutschen können. Die Aufteilung der Kinderbetreuung ist eine ständige Herausforderung. Und ich frage mich: Wie machen das eigentlich die, die niemanden zum Aufteilen haben? Weil sie beispielsweise verwitwet sind, so wie meine Kollegin. Ich wundere mich, wie wenig ich über die Situation von Hinterbliebenen weiß. Als Seelsorgerin in einer Klinik erlebe ich oft, dass Menschen ihre Partnerin oder ihren Partner verlieren. Manchmal sind die gemeinsamen Kinder noch sehr jung.
Im Christentum galt der Umgang mit Witwen und Waisen schon früh als Gradmesser dafür, wie ernst es einer Gesellschaft wirklich war mit der Gerechtigkeit. Die zahlreichen Ermahnungen, das Recht von Witwen und Waisen zu achten, stammen aus dem Judentum. Was in einer Gesellschaft zählt, wofür ein Mensch Anerkennung bekommt – das hat Jesus von Nazaret immer wieder hinterfragt. Am Tempel in Jerusalem beobachtet er, dass wohlhabende Menschen mehr Anerkennung and Ansehen bekommen – weil die Summe, die sie spenden, höher ist. Als er sieht, dass eine ältere Witwe zwei Groschen gibt, weist er die Umstehenden sofort darauf hin und sagt ihnen, dass sie mehr gegeben habe als alle anderen. Damit will er die Perspektive ändern: weg von der zählbaren Menge hin zu der Hingabe, die Menschen einer Sache im Herzen entgegenbringen.
Auch unserem säkularen Alltag täte dieser Perspektivenwechsel gut. Die Herausforderung, mit begrenzten Ressourcen an Geld oder Zeit haushalten zu müssen, kennen alleinerziehende Menschen nur zu gut. Tatsächlich investieren sie oft das doppelte. Denn eine Schulter trägt das, was sonst zwei Schultern tragen: die Verantwortung für Arbeit, Erziehung und Einkommen.
In den Erzählungen der Bibel kommen häufig verwitwete Figuren vor. Mir fällt auf, wie kraftvoll sie dort auftreten: Sie erheben ihre Stimme, sie klagen bei Richtern ihr Recht ein, sie rütteln Propheten auf. Sie machen ihnen klar: wenn du von Gott erzählst, kannst du nicht an den Herausforderungen des Alltags vorbei sehen!
Auch in unserer Konferenz hat sich was getan. Die Kollegin, der der unüberlegte Satz rausgerutscht ist, hat uns zum Kaffeetrinken eingeladen. Um sich zu entschuldigen, aber wohl auch, damit wir uns besser kennenlernen. Das war eine gute Idee, denn ich erfahre einiges, was ich nicht wusste. Meine verwitwete Kollegin erzählt, dass sie kaum Hinterbliebenenrente bekommt, weil sie arbeiten geht. Das ganze Schulmaterial, die Miet- und Nebenkosten lassen dann kaum finanzielle Spielräume. "Aber ich liebe meine Arbeit", sagt sie. "Es kommt gar nicht in Frage, dass ich das aufgebe."
Die Vereinten Nationen haben den heutigen 23. Juni zum internationalen Tag der Witwen ernannt. Ein guter Anlass, um auf die Stimmen derer zu hören, die im Alltag das doppelte an Verantwortung tragen.