Newsletter

Demokratie

Morgenandacht, 23.08.2024

Sebastian Fiebig, Hamburg

Beitrag anhören

"Die Demokratie ist bekanntlich das beste politische System, weil man es ungestraft beschimpfen kann." Das schrieb der israelische Schriftsteller Ephraim Kishon. Heute vor 100 Jahren wurde er in Ungarn geboren. Er gilt bis heute als einer der erfolgreichsten Satiriker des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Weil er Jude war, durfte er nicht studieren – auch in Ungarn wurden Ende der 1930er Jahre zahlreiche antisemitische Gesetze erlassen. Die meisten von Kishons Familienmitglieder sterben später im Holocaust. Er selbst wird in ungarische, deutsche und sowjetische Arbeitslager verschleppt.

Nach dem Krieg betätigt sich Kishon als Autor. Er schreibt eine Satire über eine Partei, die die totale Vernichtung von Glatzköpfen betreibt. Als dieser Text in einem Schreibwettbewerb den ersten Preis bekommen soll, fällt der Jury auf, dass es da jemanden gibt, der einen sehr kahlen Kopf hat: Der Anführer der ungarischen Kommunisten, der gerade zum Diktator von Stalins Gnaden aufstieg. Man ließ die Sache schnell unter den Tisch fallen. Kishon hat die Glatzkopf-Satire später übrigens zum Roman ausgebaut, dem er den Titel gab: Mein Kamm. Ähnlichkeiten zu Mein Kampf von Adolf Hitler sind natürlich völlig beabsichtigt.

Aus eigener Erfahrung weiß Kishon also sehr gut, was es bedeutet, in Diktaturen zu leben. Bis zu seiner Auswanderung nach Israel hat er mehrere davon erlebt. "Die Demokratie ist bekanntlich das beste politische System, weil man es ungestraft beschimpfen kann."

Ja, Kritik ist in der Demokratie nicht nur erlaubt, sie ist sogar Teil des politischen Systems. Und das ist die Stärke des Systems, nicht die Schwäche! Wir können, dürfen und sollten streiten über die Entscheidungen der Politiker, über den Einfluss der Lobbyisten, über die Rolle der Medien. Jeder darf seine Meinung sagen, Flugblätter verteilen, Leserbriefe schrieben, juristische Mittel nutzen und auf Demonstrationen gehen. Jeder darf Teile des Staatsapparates oder gleich das ganze System kritisieren oder – wie Kishon es nennt – beschimpfen.

Weil das aber jeder darf, muss auch jeder damit leben, dass Andere andere Meinungen vertreten oder auf Gegendemonstrationen gehen. Daran kann man wachsen. Manchmal gibt es echte Annäherung, der eine lernt vom anderen und etwas Gemeinsames entsteht. Manchmal heißt Demokratie auch, mittelmäßige Kompromisse auszuhalten. Mir ist selbst das tausendmal lieber, als wenn ein einzelner oder eine Gruppe nach eigenem Gusto bestimmt, was gut für alle ist. Ich finde, gerade dann zeigt die Demokratie ihre wahre Stärke. Nicht der Egoismus eines einzelnen, nicht die Machtgier einer Elite, nicht die Gewalt einer Ideologie stehen über allem. Im Zentrum steht vielmehr die Einsicht: Ich und meine Meinung sind wichtig, aber sie sind nicht der Nabel der Welt.

Die Kirche kennt dafür noch ein Wort, das anderswo fast verschwunden ist: Demut. Dieses Wort mag altmodisch oder für manche auch abschreckend wirken. Aber mit Demut ist auch die Einsicht gemeint, dass ich ein Teil bin und nicht das Ganze. Ich weiß um meine Begrenztheit und dass andere mich ergänzen. Aus dieser Einsicht folgt ein Handeln: Ich versuche mich auch mal zurückzunehmen, damit andere sich besser entfalten können. Ich bemühe mich, für die einzutreten, die keine Stimme haben. Und ich bemühe mich, denen entgegenzutreten, die über die Demokratie schimpfen.

Kishon starb im Jahr 2005. Sein Erfolg ist ihm nie zu Kopf gestiegen. Es klingt recht demütig, was er einmal über sich selbst sagt: "Ich bin ein erfolgreicher Misserfolg [1]."


[1] Ephraim Kishon, Kishon für Kenner, München 1978, S. 128

Über den Autor Sebastian Fiebig

Sebastian Fiebig wuchs in Hamburg auf und studierte Theologie in Münster. Heute arbeitet er als Pastoralreferent im Erzbistum Hamburg. Sein Weg führte ihn in die Pfarrpastoral und die Seemannsseelsorge im Hamburger Hafen. Beauftragt wurde er auch mit dem Gedächtnis an die Lübecker Märtyrer, die in der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand leisteten und hingerichtet wurden. Sebastian Fiebig wurde in die Ökumene- und Liturgiekommission des Erzbistums berufen. Seit vielen Jahren schreibt er Radiobeiträge für die Kirchensendungen des NDR.

Kontakt: sebastian.fiebig@erzbistum-hamburg.org