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Abschiede

Morgenandacht, 24.01.2023

Martin Wolf, Mainz

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„Früher, da war es einfach schöner.“

Hin und wieder kommt es vor, dass das jemand zu mir sagt. Und ich gebe zu, je älter ich werde, umso öfter ertappe ich mich auch selbst dabei, dass ich klammheimlich so denke. Dabei ist mir völlig klar, dass wir Menschen dazu neigen, Vergangenes zu idealisieren und all das nicht so Schöne gnädig auszublenden. Ich auch. Der Blick auf ein Früher, in dem alles so viel besser war, ist deshalb oft auch ein Blick durch die rosarote Brille.

Aber woher kommt sie, diese mitunter schmerzhafte Sehnsucht nach dem Früher? Dieser leichte Stich im Herz beim Betrachten von fröhlichen Kinderfotos, obwohl die Kinder schon längst im Studium oder im Job sind. Der heimliche Wunsch, dass diese trubelige, anstrengende Zeit doch nochmal zurückkommen möge. Wenigstens für einen Tag oder zwei. Ich kenne Eltern, die hin und wieder so eine unterschwellige Traurigkeit umtreibt.

Wenn das Haus, in dem früher so viel Leben und Gewusel war, beim Heimkommen von der Arbeit plötzlich leer und still ist. Wenn da keiner mehr freudig auf einen zugestürmt kommt, sich freut, dass man wieder daheim ist. Mit Ausnahme vielleicht der Katze, die einen erwartungsvoll anschaut. Wenn keiner mehr da ist, der mich beim Mittagessen mit Fragen löchert, die ich mir selbst noch nie gestellt habe. Keiner mehr einen altersweisen Ratschlag von mir haben will. Wenn auch keiner mehr engagiert mit mir diskutiert über Politik oder große Zukunftspläne, die so ganz anders sind, als meine eigenen es mal waren.

„Empty nest“, -also: „Leeres Nest“, so nennt sich das Phänomen, wenn das Haus oder die Wohnung plötzlich als leer und viel zu groß empfunden wird. Für manche Eltern ein immer wiederkehrender Schmerz. Die Sehnsucht nach einem Früher, das vielleicht nicht unbedingt besser war, sich aber irgendwie schöner anfühlte. Der Auszug der Kinder, das Ende eines Lebensabschnitts. All das reiht sich ein in eine lange Reihe von Abschieden im Leben.

Dabei können die manchmal sogar regelrecht befreiend sein. Etwa, wenn ich einen verhassten Job endlich los bin. Doch viel öfter ist da eben dieser Stich im Herz, wenn ein Abschied unausweichlich ist. Vom großen Lebenstraum, der sich nun doch nicht erfüllen wird. Von der beruflichen Karriere, auf die ich gehofft hatte und aus der erkennbar nichts mehr wird. Am schwersten ist der Abschied von geliebten Menschen. Er tut höllisch weh. Aber wenn ich den unerfüllten Traum oder den geliebten Menschen nicht irgendwann gehen lasse, werde ich nicht mehr frei. Werde irgendwann geradezu ersticken in wehmütigen Erinnerungen.

Je älter ich werde, umso klarer wird mir, dass mich jeder Abschied an die eigene Vergänglichkeit erinnert. Denn mit jedem Abschied lasse ich immer auch ein Stück meines bisherigen Lebens los. Jeder einzelne Abschied ist darum immer auch so eine Art kleiner Tod. Und im Lauf der Jahrzehnte werden das immer mehr.

Freiheit heißt für mich darum vor allem: Loslassen können. Nicht verdrängen oder vergessen. Loslassen. Erst dann kann ich dankbar und ohne Wehmut auf das Gewesene zurückblicken. Kann ohne Zorn oder Schmerz auch das ansehen, was schlecht gelaufen ist. Vor allem aber werde ich wieder offen, neugierig und gespannt sein auf all das, was mir in meinem Leben noch begegnen will. Und als gläubiger Mensch sogar auf das, was nach diesem Leben auf mich wartet.