Der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart hätte sich nie träumen lassen, dass es in einmal eine enge Verbindung geben würde zwischen ihm und dem südafrikanischen Freiheitskämpfer Nelson Mandela. Und doch ist es so. Denn wenn für Mandela Bildung die mächtigste Waffe der Menschheit ist, um die Welt zum Guten zu verändern, steht Meister Eckhart als Pate dieser Idee an seiner Seite.
Wie kommt ein Gegner rassistischen Hasses zu seiner verblüffenden Überzeugung? Wäre es nicht naheliegender zu sagen: Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse und gegen die, die sie unbedingt aufrechterhalten wollen, notfalls mit Gewalt?
27 Jahre saß Nelson Mandela wegen seiner Ideen von Gleichheit und Gerechtigkeit aller und für alle als politischer Gefangener im Gefängnis – von 1963 bis 1990. Diese Zeit zwischen seinem 45. und 72. Lebensjahr schien eine verlorene Zeit zu sein. Doch diese Jahre des Eingesperrt-Seins waren das Prüfsiegel für seine Überzeugung, dass Gewalt nicht in der Lage ist, die Welt nachhaltig zum Besseren zu verändern. Darin spiegelt sich Meister Eckhards Grundhaltung der Gelassenheit – Dinge und sich selber lassen, um das Größere zu gewinnen.
Für Mandela war entscheidend, dass Menschen die Möglichkeiten, die ihm oder ihr als Schöpfungsgabe mitgegeben worden sind, entfalten und einsetzen dürfen. Nur so können sie auch unter schwierigen Umständen ihr Leben selbstbewusst in die Hand nehmen, gemeinsam überlegen, entscheiden und tun, was das je Bessere für sie und für eine menschenfreundliche, weltverantwortliche Gesellschaft ist.
Der heutige 24. Januar ist der Internationale Tag der Bildung. Die UN-Mitgliedsstaaten wollen sicherstellen, dass weltweit jeder Mensch lebenslang Zugang hat zu einer "inklusiven, chancengerechten und hochwertigen Bildung". Angesichts der immensen Hindernisse, die sich dieser Vision weltweit entgegenstellen, scheint das nur ein frommer Wunsch zu sein. Und trotzdem: nachhaltiger Friede, fundamentale Gerechtigkeit und die Aufrechterhaltung einer lebensfreundlichen Schöpfung sind ohne Bildung nicht zu haben.
Als der Mystiker Meister Eckhart über Bildung nachdachte und diesen Begriff als zentralen Begriff der europäischen Geistesgeschichte prägte, tat er das als Christ. Anders hätte er ihn nicht denken können. Heute kennt "Bildung" den ursprünglich spirituellen, religiösen Kontext so nicht mehr. Kulturelle Selbstbestimmung, globale Vernetzung, neue Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz sind gewichtiger. Da aber die Mitgestaltung des rasanten Wandels unserer Welt ein tiefes Fundament braucht, kann es nicht schaden, wenn Bildung ihre begriffliche Formung aus der Mystik nicht vergisst. Man muss ein Gottes- und Menschenbild vor Augen haben, um sagen zu können, wie eine lebenswerte Welt aussehen soll. Nach welchem Vor-Bild richte ich mich aus, wenn ich meine persönliche Entwicklung und die unserer Familie und Gemeinschaft in die Hand nehme? Welche Hoffnung trägt mich bei der Frage, wie ich durch Bildungsbemühungen dem Frieden und der Bewahrung der Schöpfung dienen kann?
Die Bedeutung von Bildung kommt aus der Mystik, der erfahrenen Gottesnähe eines Meister Eckhart, genauso wie die Menschenfreundlichkeit eines entschlossenen Freiheitskämpfers. Insofern ist der Wille der UN zur lebenslangen Bildung für alle im wahrsten Sinn des Wortes ein "frommer" Wunsch nach einem erneuerten Denken der Menschen, die nach dem Bild Gottes geschaffen sind in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit (vgl. Epheser 4,23).