Mit seiner großen, unbändigen Kraft und seiner enormen Körpergröße überragte Reprobus seine Mitmenschen um Haupteslänge. Sein Leben lang wollte er immer nur dem mächtigsten Mann auf der Erde dienen. Doch immer wieder aufs Neue wurde Reprobus auf der Suche nach dem mächtigsten, stärksten und größten Menschen der Erde enttäuscht. Schließlich folgt er dem Rat eines Einsiedlers und lässt sich am Ufer eines breiten Flusses nieder.
Dort will er Menschen zum anderen Ufer hinübertragen. Eines Tages kommt ein Kind, das getragen werden will. Er nimmt es auf die Schultern und steigt in das Wasser. Doch schon in der Mitte des Flusses verspürt Reprobus eine ungeheure Last, so wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben zu tragen hatte. Er droht unterzugehen und schafft es nur unter größter Mühe ans andere Ufer. Dort sagt er dem Kind, es schien, als hätte die ganze Welt auf seinen Schultern gelegen. Da antwortet ihm das Kind: "Mehr als die Welt war deine Last, du hast den getragen, der selbst die ganze Welt trägt."
Da erkennt Reprobus in dem Kind Jesus Christus. Und so wird Reprobus zum Christusträger, zum Christo-phorus, wie er fortan heißen wird. Heute, am 24. Juli, steht er im Kalender der katholischen Kirche. Er ist der Schutzpatron der Reisenden, in manchen Autos zeigt eine Plakette die Darstellung des Heiligen, der das Christuskind trägt.
Überhaupt haben viele Darstellungen des Heiligen etwas sehr Anrührendes: Da ist der riesengroße starke Mann. Oben auf den Schultern das Kind, das ihn überragt, das Händchen streichelnd und segnend auf den Kopf gelegt oder sich am Bart des Riesen festhaltend. Ihre Blicke treffen sich. Der Christusträger, der sich umwendet zum Kind, findet in dessen wachen und liebevollen Augen, Zuspruch und Halt. Es ist, als hörte man das Kind auch dem Betrachter Mut zu sprechen: "Wir schaffen das! Verlass dich auf mich! Du bist nicht allein! Wir kommen da durch!"
Das Leben des Christophorus ist heute noch in seiner Legende lebendig. Der starke, ambitionierte Mann, der sich nur noch mit dem Allerstärksten messen wollte und sich ganz oben angekommen sah, wird überrascht: Denn der Mächtigste, nach dem er immer Ausschau hielt, zeigt sich im Kleinen und Unscheinbaren. Er, der selbst immer alles alleine stemmen wollte und konnte, lernt jetzt, dass seine unbändigen Kräfte allein nicht ausreichen. Er lernt, sich von Christus stützen und führen zu lassen.
In einer Zeit, in der Leistung zählt, wollen nicht wenige Menschen auch alles allein schaffen. Es gibt eine große Angst, dass Hilfe von anderen anzunehmen, einer Bloßstellung oder Niederlage gleichkommt. Viele tun sich schwer damit, ihr eigens Selbstbild des Machers, der Macherin, zu hinterfragen. Der Heilige Christophorus ist ein Gegenentwurf zu dieser Versuchung des Menschen, sich selbst zu überschätzen.
Und ein zweitens wird klar: das Wichtige im Leben, das, was uns wirklich selber hält und an was wir uns halten können, kommt nicht groß daher. Beim Philosophen und Schriftsteller John von Düffel habe ich vor einiger Zeit gelesen: "Wenn das Wenige dem Wesentlichen entspricht, ist das Glück."
Vielleicht kennen Sie das: Es sind nicht immer die ausladenden Gesten, die uns beeindrucken, es sind nicht immer die großen Worte, die uns wirklich berühren. Vielmehr sind es doch die kleinen Zeichen von Aufmerksamkeit und Zuwendung, von Rücksichtnahme und der Großzügigkeit, die zu Herzen gehen.
Im Kind, das Christophorus trug, hat er seine Erfüllung gefunden. Das Kind auf seinen Schultern ist das Wesentliche. In ihm begegnet Christophorus dem, der die ganze Welt trägt. Wenn das Wenigste dem Wesentlichen entspricht, ist das Glück.